
Isabell Stiller fordert: Hört auf, den Regenbogen zu sabotieren.
Wenn ich an meine Oberstufenzeit zurückdenke, habe ich vor allem A. in ihren Kleidern, mit dem roten Lippenstift und dem latent genervten Blick in Erinnerung. Sommer 2008: Ich war gerade auf Klassenfahrt und teilte mir gemeinsam mit vier anderen Mitschülerinnen ein Zimmer. Darunter auch A. Natürlich wurde auch viel über Jungs gequatscht. Den ersten Kuss, das erste Date, das erste Mal. Nur A. blieb stumm und den anderen diese Tatsache natürlich nicht verborgen.
A. war anders - und genau das war das Problem
„Und du, A.? Mit wie vielen Jungs hast du schon rumgemacht?“, fragte C. in die Runde. A. lag auf ihrem Hochbett und blätterte in einer Zeitschrift. „Mit keinem, ich bin lesbisch“, sagte sie dann - ohne aufzusehen. Der Schock stand den anderen ins Gesicht geschrieben. Wie damals, als Nick Carter seinen Ausstieg bei den Backstreet Boys bekannt gab. Nur ohne die Tränen. „Du siehst gar nicht wie eine Lesbe aus“, erwiderte C. daraufhin. Nach der Klassenfahrt war alles anders. A. wurde fortan mit komischen Blicken belegt, hinter vorgehaltener Hand ausgelacht und als „falsches Mädchen“ bezeichnet. Ich konnte die Gedanken meiner Mitschüler damals nicht nachvollziehen. Für mich war A. wie jeder andere Mensch auch. Mit dem feinen Unterschied, dass sie Frauen und nicht Männer begehrte.
„Das ist doch nur wieder son' blöder Trend“
Was damals noch für Aufsehen sorgte und sogar als "falsch" angesehen wurde, gilt mittlerweile zum Glück als völlig normal. Immer mehr Menschen bekennen sich offen zu Ihrer Sexualität. Und das ist gut so. Nichts ist schlimmer, als ein ständiges Versteckspiel zu führen. Die LGBT und LGBTQ+ Community haben in den vergangenen Jahren Großartiges vollbracht. Niemand muss sich mehr verstecken. Theoretisch. Im echten Leben sieht das leider immer noch ein wenig anders aus „Das ist doch nur wieder so ein Trend“, "Hört endlich auf damit“ oder "Was soll der Müll?“ sind nur ein paar der Sätze, die ich in der Bahn, im Supermarkt, auf Instagram und sogar in meiner Lieblingsbar aufgeschnappt habe. Sätze, die mich fassungslos machen. Weil ich sie nicht verstehen kann. Was ist so falsch daran, anders zu lieben oder zu sein?
Lasst den Regenbogen endlich Regenbogen sein
Ich mag keine Kuhmilch, trinke dafür am liebsten Hafermilch, ich schaue kein Fernsehen, dafür aber Filme und Serien auf Netflix und Co. Mit Schokolade kann ich nichts anfangen, Lakritz liebe ich dagegen abgöttisch. Jeder von uns teilt andere Vorlieben. Nicht nur im Hinblick auf Süßigkeiten, Berufswünsche oder Lieblingsbücher, sondern auch, was die eigene Sexualität angeht. Nur weil meine beste Freundin keine Katzen mag, gehe ich ja noch lange nicht mit einer Fackel auf sie los und erkläre ihr, wie falsch ihre Einstellung doch ist. Genauso absurd wie das Katzen-Beispiel empfinde ich auch das ständige Wiederkäuen der Aussage, dass "dieses LGBTQ-Dings nur wieder so ein bescheuerter Trend" sei, dem alles und jeder jetzt irgendwie hinterherrennen muss. Genau DAS ist es eben nicht.
"Ist die jetzt etwa auch lesbisch?"
Für viele Menschen beginnt tatsächlich erst jetzt ihr richtiges Leben. Fernab vom ewigen Versteckspiel und der Angst, auf Ablehnung und Schikane zu stoßen. So war es auch bei A. Einige Wochen nach der Klassenfahrt setzte ich mich in der Pause neben sie. Mir war klar, dass dieser Moment in die Geschichtsbücher unseres städtischen Gymnasiums eingehen würde. Ich überhörte Sätze wie "Ist die jetzt etwa auch lesbisch?" und "Schaut mal, das neue Liebespaar" und lauschte stattdessen ihrer Geschichte. Ihrer Verzweiflung, Angst und dem Wunsch, endlich Anerkennung und Respekt zu erfahren.
Das war vor gut 15 Jahren. Ich habe keinen Kontakt mehr zu A. Ich bin mir jedoch sicher, dass sie heute zufriedener und glücklicher ist als damals. Es gibt nichts Schlimmeres, als ein Leben zu führen, das nur auf den Wünschen, Träumen und Wertvorstellungen anderer Menschen basiert. Oder würden Sie gerne Ihr ganzes Leben lang Schwarz tragen wollen, obwohl Sie bunte Kleidungsstücke viel lieber mögen - oder (noch schlimmer) keine Bücher mehr lesen dürfen, obwohl genau das Ihre größte Leidenschaft ist?
LGBTQ ist kein Trend, sondern einer Lebenseinstellung
Sich über die eigene Sexualität bewusst zu werden, ist nicht leicht. Schon gar nicht, wenn einem in der Vergangenheit oft eingeredet wurde, wie falsch es doch ist ‚anders‘ zu denken und zu fühlen. Ganz egal, von welchem Thema wir auch sprechen. Hört auf, die Menschen in Schubladen zu stecken und lasst sie stattdessen lieben und leben, wen sie wollen. Woher wissen wir schon, was richtig und was falsch ist? Weil unsere Eltern uns etwas anderes vorgelebt haben oder Arbeitskolleg:innen und Freund:innen einen anderen Weg gehen als wir? Bullshit. Es geht auch nicht darum, anderen Menschen die eigene Lebenseinstellung aufzuzwingen. Es geht um den Respekt und die Selbstverständlichkeit, die wir anderen Angelegenheiten in unserem Leben längst entgegenbringen. Zum Beispiel, dass einige Frauen auch ohne Kinder glücklich sein können UND dürfen oder Depressionen eben nicht nur was mit "schlechter Laune" zu tun haben.
Je mehr wir über das Thema LGBTQ + & Co. sprechen, desto selbstverständlicher wird es irgendwann für uns. Und, mal ehrlich: So ein schwarz-weißer Regenbogen ist ja auch irgendwie ziemlich langweilig, oder?
Über Kolumnistin Isabell Stiller
Redakteurin und Literaturexpertin Isabell Stiller hat eine Schwäche für guten Tee – und gute Bücher. Zu ihren Lieblingsautor:innen zählen unter anderem Jack Kerouac, Joan Didion, Frank O’Hara, Leïla Slimani, Patti Smith und Chris Kraus. Ob aufstrebende Autor:innen, längst vergessene Klassiker oder echte Geheimtipps. In ihrer Kolumne "Handverlesen" teilt sie bei FÜR SIE jeden Monat ihre aktuellen Gedanken und Fragen – und verrät dazu Ihre besten Buchtipps.