Kolumne: Nicht alle Frauen sind geborene Mütter

Das Wort Mutterschaft löste bei unserer Kolumnistin und Literatur-Expertin Isabell Stiller lange Zeit Schnappatmung und Wutanfälle aus. Bis das richtige Buch zur richtigen Zeit ihr Leben veränderte. Hier verrät sie ihre Gedanken und Weisheiten – inklusive Buchtipps.

Muttersein? Für Kolumnistin Isabell Stiller ist das keine Option.

Muttersein muss man wollen – nicht müssen

"Irgendwann werde ich Kinder haben", sagte meine Jugendfreundin J. mit 14 mal zu mir. Da saßen wir gerade auf der Schaukel auf unserem Lieblingsspielplatz, teilten uns eine gemischte Tüte von Kiosk und lauschten der neuen Bravo Hits 2003. Ich war überrascht über ihren Satz. Ich hatte bis dato nur Pferde und Bücher im Kopf, dachte mir aber: Das wird sich schon irgendwann ändern.Mamas sind Frauen und Frauen sind Mamas. Das war damals einfach so. Tat es aber nicht. Auch nicht mit 31. Auch nicht jetzt, während ich diesen Text tippe. Ich habe einen Job, einen Mann, zwei Katzen und lebe auf einem wunderschönen Resthof. Ich habe alles, was ich jemals wollte. Wenn ich den Stimmen um mich herum lausche, scheint das aber nicht genug zu sein. Etwas fehlt. Etwas ganz Entscheidendes.

Bin ich normal? Und wenn nicht: Wann würde ich normal werden?

"Wo bleibt das Kind?", "Du hast aber einen gesunden Appetit. Isst du jetzt für Zwei?" oder "Und, seid ihr schon schwanger?" waren nur ein paar der Sätze, die mir im Gedächtnis geblieben sind - und die ich am liebsten ganz schnell wieder vergessen hätte. Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen und selbst Fremde schienen sich mehr für meinen Uterus zu interessieren, als ich selbst. Aus dem Fragen-Knäuel meiner Mitmenschen spann ich mir mit Anfang 20 eine ganz eigene Frage, die mich bis in meine frühen Dreißiger verfolgen sollte: Bin ich normal? Und wenn nicht: Wann würde ich normal werden? Eine gute Bekannte und Mutter eines kleinen Sohnes meinte mal zu mir, "Du spürst, wenn du ein Kind willst." Ich versuchte, in mich hineinzuhorchen. Es blieb stumm. Stumm in meinem Uterus, stumm in meinem Kopf und stumm in meinem Herzen.

Nicht alle Frauen sind geborene Mütter

Die Stummheit machte mir Angst. War etwas kaputt in mir? Meine Suche nach Gleichgesinnten blieb vergeblich. Überall um mich herum schossen die Babys wie Frühlings-Krokusse aus dem Boden. Vielleicht musste ich einfach mehr auf diesem Boden umherwandern, um mich mit dem Babyfieber zu infizieren? Ich nahm Babys auf den Arm, ließ mich ansabbern, verkleidete mich von Kopf bis Fuß und las ein Kinderbuch nach dem anderen vor. Die Stummheit wurde zu einer Art Taubheit, die ich mir nicht erklären konnte. Bis mir Sheila Heti die Augen öffnete.

(K)eine Laune der Natur

An einem Januarmorgen im Jahr 2018 ging ich wie jeden Monat meinen Stapel mit druckfrischen Rezensionsexemplaren durch, um geeignetes Material für eine geplante Buchvorstellung zu finden. Als ich "Mutterschaft" von Sheti im Stapel entdeckte, pausierte ich kurz. Da war es wieder. Dieses Wort, zu dem ich nicht fähig war. Mutter. Mutterschaft. Ich legte das Buch ganz nach unten in den Stapel. Nur um es am Abend wieder hervorzuholen und darin zu lesen. Meine anfängliche Skepsis wurde ziemlich schnell von einer "Ja, ja, ja!!"-Walze plattgemacht. Ich fühlte mich zum ersten Mal verstanden, gesehen, gehört und normal. Normaler als normal. Denn: Was für andere selbstverständlich ist, muss für uns noch lange nicht die Norm sein. Oder Teil des eigenen Lebens werden.

Ein Kind könnte mich gar nicht aushalten – und umgekehrt

Nach dem Lesen schien die verschollene Stimme in mir so stark wie nie zuvor. Ich wusste plötzlich, wer und was ich nicht war: Mutter. Ich liebe es, morgens ewig lange im Bett herumzublödeln, mir einen Kaffee zu kochen und in guten Magazinen und Büchern zu stöbern. Ich muss die Gewissheit haben, dass ich jederzeit spontan meine Sachen packen kann, um mit meinem Mann auf unsere Lieblingsinsel Ibiza zu fliegen. Ich bin unausstehlich, wenn ich vom Leben in den Schwitzkasten genommen werdeund müsste mit meiner dramatischen Persönlichkeit eigentlich längst einen Oscar gewonnen haben. Fakt ist: Ein Kind könnte mich gar nicht aushalten – und umgekehrt. Das zu akzeptieren, war wie eine Erlösung für mich. Danke Sheila.

Muttersein betrachte ich heute anders. Entspannter. Eine gute Mutter ist für mich nicht nur eine Frau, die sich dazu entschließt, die Welt mit einem Kind zu bereichern. Eine gute Mutter ist auch eine Frau, die sich bewusst gegen ein Kind entscheidet. Ganz egal, wie die Menschen um einen herum das finden.

Über Kolumnistin Isabell Stiller

Redakteurin und Literaturexpertin Isabell Stiller hat eine Schwäche für guten Tee – und gute Bücher. Zu ihren Lieblingsautor:innen zählen unter anderem Jack Kerouac, Joan Didion, Frank O’Hara, Leïla Slimani, Patti Smith und Chris Kraus. Ob aufstrebende Autor:innen, längst vergessene Klassiker oder echte Geheimtipps. In ihrer Kolumne "Handverlesen" teilt sie bei FÜR SIE jeden Monat ihre aktuellen Gedanken und Fragen – und verrät dazu Ihre besten Buchtipps. 

Die "Handverlesen"-Buchtipps im Mai

Ob Mutter oder nicht – Mutterschaft ist ein spannendes Thema. Und auch die Literatur hält dazu ein paar tolle Bücher bereit. Eine Auswahl meiner Lieblingsbücher finden Sie in dieser Galerie: