Häusliche Gewalt betrifft Frauen aller gesellschaftlichen Schichten – und wird immer mehr, wie die Zahlen belegen: So lag die Zahl der Opfer von Häuslicher Gewalt im Jahr 2022 bei 240.547 Opfern und ist damit um 8,5 Prozent im Vergleich zum Jahr 2021 gestiegen. Fast alle zwei Minuten wird in Deutschland ein Mensch Opfer von Häuslicher Gewalt. Jede Stunde werden mehr als 14 Frauen Opfer von Partnerschaftsgewalt. Und beinahe jeden Tag versucht ein Partner oder Expartner eine Frau zu töten. Die Zahlen sind erschreckend – und die Dunkelziffer ist noch viel höher.
Im Video: Häusliche Gewalt – Hilfen für Betroffene und Umfeld
Sondersendung zum Thema Häusliche Gewalt
Dass körperlicher sowie seelischer Missbrauch für viele Frauen zum Alltag zählt, verdeutlicht auch das „stern TV Spezial: Kein Opfer mehr! Flucht aus der Beziehungshölle“ am 12. Oktober um 20.15 Uhr bei RTL. In einem 90-minütigen Spezial begleitet RTL-Reporterin Pia Osterhaus Frauen, die sich aus der Gewalthölle befreien und ihr Leben neu organisieren konnten. Dabei werden auch verschiedene Hilfsangebote beleuchtet, deren Bedeutung immer wichtiger wird. Eins davon ist die Beratungsstelle „Land-Grazien“ in Schleswig-Holstein.
„Land-Grazien“: Beratungsstelle auf vier Rädern
Die „Land-Grazien“ ist eine Frauenberatungsstelle, die 2021 von Miriam Peters ins Leben gerufen wurde. Dabei sind sie und ihr Team sowohl in den sozialen Netzwerken aktiv, als auch mit einem mobilen Büro in Form eines Transporters unterwegs. „Unser Schwerpunkt liegt auf Partnerschaftsgewalt. Wir beraten ausschließlich Frauen und Kinder“, erklärt die staatlich anerkannte Sozialarbeiterin im Interview mit Für Sie Online.
Befinden sich Frauen in einer gewaltvollen Beziehung oder erleben auf verschiedene Art und Weise Gewalt, können sie sich bei Miriam und ihrem Team melden. „Wir machen dann eine Gefährdungsanalyse, in welcher Gefahr die Frau steckt, um weitere Schritte zu besprechen. Wir zählen Alternativen auf, sie selbst trifft aber immer die Entscheidung, was als nächstes passiert. Das oberste Prinzip bei uns ist die Wahrung der Selbstbestimmung.“
Kontakt zu den „Land-Grazien“
Wie die „Land-Grazien“ arbeiten und wie Frauen Kontakt aufnehmen können, erfahren Sie auf der Website oder gleich hier:
Sozialarbeiterin Miriam Peters im Interview über häusliche Gewalt
Sie beraten, sie begleiten zur Polizei, sie ermutigen – und konnten damit schon vielen Frauen helfen. Im Interview mit Für Sie Online erzählt Miriam Peters von ihrem Beratungsmobil und ihrer täglichen Arbeit und gibt Tipps an betroffene Frauen.
Warum bleiben Frauen bei gewalttätigen Männern?
Weil die Alternativen alle schlecht sind. Nehmen wir an, eine Frau lebt in einer gewaltvollen Beziehung, hat zwei Kinder und arbeitet in Teilzeit. Wo soll sie hin und wie soll sie sich ihr Leben finanzieren? Der Wohnungsmarkt für Alleinerziehende ist extrem schwer. Hinzu kommt, dass die Frauen psychisch manipuliert werden und eingeredet bekommen, dass sie zu nichts in der Lage sind. Dann glaubt man das irgendwann. Dann überlegen sie, was schlimmer ist: Armut oder Gewaltbeziehung?
Was ist mit einem Frauenhaus?
Einen Frauenhausplatz in Deutschland zu bekommen, hat nur noch was mit Glück zu tun. Die sind so überlaufen, es fehlen circa 15.000 Plätze in Deutschland, um alle Frauen aufzufangen. Einige Frauen kommen auch bei der Familie oder Freunden unter.
Welche Rolle nehmen Sie dabei ein?
Erst mal müssen sich die Frauen, auf welchem Kanal (Anm. d. Red.: Die Möglichkeiten der Kontaktaufnahme finden Sie in dem Instagram-Post oben) auch immer, bei uns melden. Wir unterscheiden dabei zwischen Beratungen von Frauen, die wir schon kennen, und sogenannten Erstkontakten, also Frauen, die sich das erste Mal bei uns melden. Das sind zurzeit fünf bis sechs neue Frauen pro Woche im Durchschnitt. Beim ersten Gespräch geben wir einfach ganz viele Infos raus und versuchen viele Fragen zu beantworten. Da brauchen viele dann auch erst einmal Zeit, um darüber nachzudenken.
Wer kann sich bei Ihnen melden?
Unser Schwerpunkt liegt auf Partnerschaftsgewalt. Wir beraten ausschließlich Frauen und Kinder. Gemeinsam machen wir dann eine Gefährdungsanalyse, in welcher Gefahr die Frau steckt und wie gefährlich sie ist, um weitere Schritte zu besprechen. Wir zählen Alternativen auf, sie selbst trifft aber immer die Entscheidung, was als nächstes passiert. Das oberste Prinzip bei uns ist die Wahrung der Selbstbestimmung. Das steht uns auch gar nicht zu, das Leben einer anderen Person zu bewerten.
Wie kam es zur Gründung der „Land-Grazien“?
Ich habe meine staatliche Anerkennung im autonomen Frauenhaus in Lübeck gemacht. Aufgrund von knappen Ressourcen – keine Zeit, kein Platz, zu wenig Mitarbeiterinnen, zu wenig Geld – mussten immer wieder Frauen abgelehnt werden. Da habe ich mich gefragt, was mit den Frauen aus dem Herzogtum Lauenburg ist, die in den ländlichen Regionen leben. Oft herrscht so eine schwache Infrastruktur, dass man gar nicht überall mit den öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt. Daraus ist die Idee mit unserem Beratungsmobil entstanden, mit dem Hauptschwerpunkt für ländliche Regionen. Wir hatten die Idee online veröffentlicht und schon kamen die ersten Beratungsanfragen rein, noch bevor wir unsere eigentliche Arbeit aufgenommen haben.
Was zeichnet Ihr Beratungsmobil aus?
Wir sind kein fester Anlaufpunkt, der Bus ist anonym. Der sieht von außen wie ein Handwerkerauto aus und niemand weiß, dass darin ein Büro ist. Wir treffen uns mit den Frauen an den Orten, wo sie sich sowieso aufhalten – zum Beispiel auf Parkplätzen von Schulen, Friedhöfen oder der Fußpflege. Viele werden rund um die Uhr über Ortungsdienste im Handy verfolgt und überwacht. Wenn eine Frau dann in eine öffentliche Beratungsstelle geht, kann das Lebensgefahr für sie bedeuten.
Die Nachfrage bei Ihnen wird immer größer. Woran liegt das?
Je mehr Risikofaktoren in einer Familie herrschen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Partnerschaftsgewalt auftritt. Durch die multikausalen Krisen der letzten Jahre, – ob Corona, Krieg oder Inflation –, wurde es immer schlimmer. Es gibt im Jahr aber auch immer Zeiten, wo unsere Arbeit besonders gefragt ist, zum Beispiel an Feiertagen wie Weihnachten oder Neujahr. Dafür haben wir aber auch ein Sommerloch, wo weniger los ist. Und immer wenn wir denken, es ist gerade ruhiger, werden wir am nächsten Tag überrannt.
Wer gehört alles zu „wir“?
Wir sind vier Mitarbeiterinnen. Neben mir als staatlich anerkannte Sozialarbeiterin und Koordinationskraft haben wir eine duale Studentin für soziale Arbeit, eine Verwaltungsfachkraft und eine 450-Euro-Kraft, die überall unterstützt. Wir finanzieren uns ausschließlich über Spenden und Stiftungsgelder. Das Geld reicht jedoch nicht für eine weitere Sozialarbeiterin, die wir ganz dringend bräuchten.
Was können betroffene Frauen tun?
Das Schwerste ist, sich Hilfe zu holen. Das kennt man ja von sich selbst: Wie oft fragt man denn jemanden nach Unterstützung? Und wir sind ja auch fremde Personen für die betroffenen Frauen. Aber sie müssen vor dem Berg an Hürden nicht alleine stehen. Sie müssen sich trauen, sich ein bisschen zu öffnen, und sich Unterstützung zu holen.
Was geben Sie den Frauen im Gespräch dann mit auf den Weg?
Viele machen sich Vorwürfe, warum sie das schon so lange aushalten. Dann sage ich immer: Für mich sieht das nur so krass aus, weil du diese Beziehung schon so lange überlebst. Du bist eine Überlebende und kein Opfer mehr, spätestens seit du wieder aufgestanden bist und uns kontaktiert hast. Wir empowern, dass es sich lohnt zu gehen.
Und ohne Ihre Hilfe würde das vielen sicher nicht leicht fallen …
Ich find das immer so schwierig, zu sagen, man konnte den Frauen helfen. Man hat ja kaum etwas getan. Das Risiko und den Mut hat die Frau selbst aufgebracht. Ich finde die Perspektive einfach ganz wichtig. Klar, wir haben gut zugeredet, wir sind das Auto gefahren, haben vielleicht unsere Fachexpertise eingebracht – aber die Frau hatte den Mut, sich da rauszuboxen. Sie hat die selbstbestimmte Entscheidung getroffen, dass Schluss damit ist. Und diese Power, diese Kraft, dieser Mut, das ist viel mehr wert, als das was wir tun.