
Jede Frau kennt das Gefühl von Unsicherheit, wenn sie allein unterwegs ist, denn verbale Attacken kommen vor.
Liebe Frau Dr. Weyand, Sie sind Fachanwältin für Strafrecht und Partnerin einer Anwaltskanzlei in Frankfurt am Main. Vor allem aber sind Sie Frau. Und seit 2025 Vorstandsmitglied bei UN Women Deutschland. Danke, dass Sie sich dazu bereit erklärt haben, uns eine kurze - aber bedeutsame - Einordnung des aktuellen Standes und der Wichtigkeit des neuen Gesetzesvorschlags gegen "Catcalling" zu geben.
FÜR SIE: Frau Dr. Weyand, viele Frauen werden folgendes Szenario kennen: Man wird auf der Straße verbal belästigt, es wird einem hinterhergerufen oder man wird blöd angemacht - aber die Täter kommen straffrei davon. Warum ist solch ein Verhalten laut dem deutschen Gesetzbuch derzeit noch frei von jeglicher Strafverfolgung?
Dr. Carolin Weyand: Ein solches Verhalten ist nach den deutschen Strafgesetzen nicht nur „oft“ nicht strafbar, sondern schlichtweg gar nicht strafbar. Verbale sexuelle Belästigung fällt in Deutschland (anders als in anderen europäischen Ländern) unter keinen Straftatbestand. Auch die Beleidigungsdelikte helfen da nicht weiter. Der Bundesgerichtshof hat mehrfach klargestellt, dass die Beleidigungstatbestände von ihrem Schutzgut her bei Handlungen gegen die sexuelle Selbstbestimmung nicht greifen. "Catcalling" ist in Deutschland nicht strafbar.
Was ist Catcalling?
Catcalling bezeichnet unerwünschte, sexuell konnotierte Zurufe, Kommentare, Blicke oder Gesten im öffentlichen Raum, die Frauen oft zu Sexualobjekten degradieren. Für uns Frauen sind das keine Komplimente, sondern gezielte Grenzüberschreitungen und Belästigungen, die uns auf der Straße Angst machen und uns das Gefühl geben, nicht sicher zu sein.
FÜR SIE:Noch nicht strafbar. Wenn ein Gesetz, wie es sich die SPD vorstellt, kommt, das "Catcalling" strafbar macht - was würde das konkret für die Täter bedeuten? Geldstrafen, Schadensersatzzahlungen oder auch der Gang ins Gefängnis?
Dr. Carolin Weyand: Für Täter würde es ein grundlegendes Umdenken bedeuten: Auch verbale sexuelle Belästigung von Mädchen und Frauen wäre eine Straftat. Sie würden sich strafbar machen. Ihr Verhalten würde gesellschaftlich nicht mehr akzeptiert. Ob neben einer Geldstrafe auch eine Freiheitsstrafe verhängt werden könnte, hängt von der noch zu treffenden Regelung hierzu in einem entsprechenden Gesetz ab. Die (körperliche) sexuelle Belästigung wird in Deutschland mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu 2 Jahren bestraft. Denkbar ist, dass der deutsche Gesetzgeber für die verbale sexuelle Belästigung nur eine Geldstrafe als Rechtsfolge vorsehen würde (so haben es einige andere europäische Länder geregelt). Am Ende hängt diese Frage aber vom Willen des Gesetzgebers ab. In einem konkreten Fall wird es dann natürlich bei der Strafmaßentscheidung auch auf die Umstände des Einzelfalls ankommen.
FÜR SIE: Man hört immer wieder, dass es in Fällen von verbaler Gewalt schwer ist, diese zu beweisen, weil der Moment, in dem es passiert, oft zu schnell vorbei ist. Zeugen gibt es selten. Was raten Sie Frauen, die bereits "Catcalling" erfahren mussten, um überhaupt rechtlich eine Chance auf Strafverfolgung zu haben? Und was gilt in dem Zusammenhang vielleicht doch als Beweis?
Dr. Carolin Weyand: Sexuelle Belästigung ist meist durch ein Überraschungsmoment gekennzeichnet. Sobald die Belästigung vom Opfer realisiert wurde, ist sie oft auch schon vorbei. Ich empfehle für derartige Situationen immer zwei Schritte: erstens deutlich zu machen, dass dieses Verhalten unerwünscht ist (soweit man in der Situation dazu in der Lage ist) und zweitens ein Protokoll anzufertigen (wann wurde was von wem gesagt; wer war ggf. dabei und kann meine Angaben bestätigen?). Ist die Identität des Täters unbekannt, kann man nach den Personalien fragen und/oder ggf. die Polizei rufen. Auch Personen, die die Belästigung eventuell auch wahrgenommen haben, kann man ansprechen und nach ihren Kontaktdaten fragen. Wichtig ist für mich der Hinweis, dass auch sog. „Aussage gegen Aussage-Konstellationen“ nicht grundsätzlich aussichtslos sind. Hier kommt es darauf an, welche Aussage letztlich als glaubhaft bewertet wird. Auch ohne weitere Beweismittel kann eine Anzeige daher erfolgreich sein.
Der aktuelle Stand zum "Catcalling-Gesetz"
Die politische Debatte konzentriert sich auf den SPD-Vorstoß, die verbale sexuelle Belästigung ("Catcalling") als eigenen Straftatbestand einzuführen, um eine Lücke im Strafrecht zu schließen. Dies wird jedoch von der CDU/CSU und einigen Juristen kritisch gesehen, da sie die praktische Umsetzbarkeit und die Gefahr von Symbolpolitik ohne reale Wirkung bemängeln.
FÜR SIE: Gesetze gegen sexuelle Belästigung gibt es bereits. Mögen Sie zur besseren Differenzierung einmal erklären, worin sich bereits vorhandene Gesetze gegenüber einem neuen Gesetz gegen "Catcalling" unterscheiden?
Dr. Carolin Weyand: Es gibt zwar in unserem Strafgesetzbuch den Tatbestand der sexuellen Belästigung (§ 184i StGB), dieser erfasst aber nur Belästigungen, die eine körperliche Berührung beinhalten. Unter "Catcalling" versteht man üblicherweise aber sexuelle Belästigung ohne körperliche Berührung. Hierunter sind nicht nur das klassische Hinterherpfeifen, sondern auch verbale sexuelle Belästigung erheblichen Ausmaßes zu verstehen. Der Bundesgerichtshof z. B. hatte über einen Fall zu entscheiden, in dem ein elfjähriges Mädchen auf der Straße von einem älteren Mann aufgefordert wurde, mit ihm zu gehen, da er ihr „an die M… fassen möchte“. Das Verhalten des Mannes hat der Bundesgerichtshof – entsprechend der geltenden strafrechtlichen Regelung – als straflos gewertet. Verbale sexuelle Belästigung ist in Deutschland grundsätzlich erlaubt.
FÜR SIE: Einfach unglaublich! Und aufwühlend. Ein neues Gesetz kann dann ja auch eine wichtige Botschaft sein, die das Handeln der Menschen präventiv zum "Guten" beeinflusst. Sind Sie der Meinung, dass es das Zeug dazu hat, dass sich Frauen insgesamt langfristig sicherer fühlen?
Dr. Carolin Weyand: Die strafrechtliche Erfassung verbaler sexueller Beleidigung wäre ein starkes Signal. An uns alle. Auch wenn die Beweisbarkeit (wie üblicherweise in allen Sexualstraftaten) nicht immer gegeben oder schwierig ist, entfaltet das Verbot von Catcalling eine wichtige und überfällige normative Wirkung. Männer haben nicht das Recht, Mädchen und Frauen zu sexualisieren! Diese Wirkung wird sich im Miteinander der Geschlechter entfalten und den respektvollen gegenseitigen Umgang fördern.
FÜR SIE: Ein mächtiges Schlusswort. Vielen Dank, Dr. Carolin Weyand!
Unsere Expertin und Interviewpartnerin Dr. Carolin Weyand
Dr. Carolin Weyand ist Fachanwältin für Strafrecht und berät als Gründungspartnerin der Kanzlei Rettenmaier Frankfurt Unternehmen und Privatpersonen in den Bereichen Wirtschafts- und Steuerstrafrecht. Sie ist eine gefragte Expertin für sensible Fälle sexualisierter Gewalt sowie die Prävention von #MeToo-Vorwürfen und engagiert sich darüber hinaus für gerechtere Strafverfahren.