Kind und Karriere: Die große Vereinbarungslüge

Vereinbarungslüge: Warum sich Kind und Karriere immer noch nicht unter einen Hut bringen lassen

“Kinder darf man sehen, aber nicht hören” – Mütter haben es häufig immer noch schwer, wenn es um die Vereinbarung von Familie und Beruf geht. Wir haben FÜR SIE College Moderatorinnen Tanya Neufeldt und Camilla Rando interviewt und wollten wissen, wo genau die Probleme liegen, was man tun kann und welche Möglichkeiten das von beiden mitbegründete Netzwerk "Social Moms" Müttern bietet. Neugierig, mehr von Tanya und Camilla zu hören und zu sehen? Unser FÜR SIE College powered by SOCIAL MOMS geht mit dem Thema "Harmonie" in die dritte Runde jetzt schnell Tickets für den 2. Dezember 2020 sichern! 

FS: Flexible Arbeitszeiten, Firmen-Kita – Unternehmen werben mit ihrer Fortschrittlichkeit, was die Vereinbarkeit von Kind und Beruf angeht. Was sind Ihre Erfahrungen?

Tanya: Ich komme aus der Freiberuflichkeit. Das heißt, ich musste mich immer selber organisieren. Mit oder ohne Kind. Wir leben aber leider immer noch in einer Gesellschaft in der der Satz “Kinder darf man sehen, aber nicht hören” unterschwellig gilt. Es hat sich schon ganz viel getan – ohne Frage. Aber es ist immer noch selbstverständlich, dass die Welten Familie und Berufsleben möglichst wenig Schnittmenge haben sollten. Allerdings gibt es natürlich mittlerweile auf leuchtende Beispiele von Firmen, die ganz bewusst Familienväter und Mütter bei sich im Unternehmen haben möchten und dafür auch die Möglichkeiten schaffen.

Camilla: Ich habe mich in meiner ersten Elternzeit selbstständig gemacht. Aber ich habe leider mitgekriegt wie es Kolleginnen ging, die schwanger wurden und wie Halbtagsjobs plötzlich in Vollzeitjobs umdefiniert wurden, so dass die Kollegin mit kleinen Kindern keine Möglichkeit hatte mehr zurück zu kommen. Freiberuflich zu sein mit kleinen Kindern hat zwar den Vorteil, dass man Freiheiten hat, aber auch, dass man eben arbeiten muss, wenn ein Job anfällt. Mein zweites Wochenbett habe ich wegen eines Projekts überall nur nicht im Bett verbracht. Ich habe dafür zwar eine Menge Anerkennung bekommen, aber es hat mich sehr viel Kraft gekostet. Da wünsche ich mir bis heute ein klassisches Elternjahr ohne das tägliche Zerreißen zurück.

FS: Die Social Moms sind ein von Ihnen mitgegründetes Netzwerk, um Mütter miteinander zu verbinden und sich gegenseitig zu unterstützen. Erklären Sie bitte kurz den Kern Ihrer Arbeit und welchen Benefit haben Sie sowie andere Mütter davon?

Tanya: Camilla und ich haben beide große Blogs kreiert und es war schon immer unser Wunsch Frauen zu stärken und sie miteinander vernetzen. Mit meinem Blog "Lucie Marshall” und Camillas Magazin “Mummy Mag” haben wir damit bereits begonnen. Aber man stößt als Alleinkämpfer immer irgendwann an seine Grenzen. Wir wollten aber gerne noch mehr Frauen miteinander verknüpfen. Und die Chance haben wir mit Social Moms bekommen. 

Camilla: Genau. Und da Tanya und ich schon vorher gemeinsam ein Büro hatten und auch viel gemeinsam in der Beratung tätig waren, haben wir die Chance ergriffen und wollten es auch gemeinsam umsetzen! Und jetzt sind wir mittendrin. Auf unserer Plattform können sich Mütter rund um das Thema Muttersein informieren. Wir machen Webinare, digitale Coffeebreaks – und hoffentlich bald auch wieder live Coffeebreaks und Podcasts. Und uns ist es ganz wichtig keinen Frontalunterricht zu betreiben – sondern immer verschiedene Perspektiven zu zeigen, die aber nie dogmatisch sind. Wir möchten Müttern und Frauen das Gefühl geben, dass sie gesehen und wertgeschätzt werden. Und zwar in jeder Lebensphase.

FS: Sie beide sind ja selbst Mütter – was sind, auch im Dialog mit der Community, die größten Probleme, die Mütter im Berufsalltag heutzutage haben? Kann man die Probleme überhaupt verallgemeinern? Man denke nur an Selbstständige und Angestellte ...

Tanya: Was sich durchzieht ist der Vermissen von Wertschätzung und zwar aus unterschiedlichen Richtungen: Manchmal ist es der Partner, bei anderen die Gesellschaft, die Politik oder der Arbeitgeber. Es wird erschreckenderweise immer noch sehr oft für selbstverständlich genommen, dass Mütter den Hauptteil der Care Arbeit zu Hause übernehmen. Und zwar unentgeltlich. Und mit Care Arbeit meine ich Kinder, Haushalt und die Pflege der Eltern.

Camilla: Diesen Satz müssen sich Teilzeitarbeitende nach wie oft anhören: “Na, und jetzt halber Tag Urlaub?” Dass die meisten Mütter unglaublich effizient ohne Kaffeeklatsch in der Teeküche durcharbeiten, wird da völlig übersehen. Und dass sie sich zu Hause dann nicht auf die Couch legen, sondern sich um die Kinder und Haushalt kümmern, ebenfalls. Und nein, nur um das vorweg zu nehmen: Zeit mit seinen Kindern zu verbringen ist herrlich. Aber nicht, wenn alles nahtlos ineinander übergeht und man kaum atmen kann.

FS: Deutschland ist eine herausragende Wirtschaftsnation. Warum glauben Sie wird das Potenzial von Müttern immer noch so vernachlässigt oder verkannt?

Tanya: Das ist uns auch ein komplettes Rätsel! Und auch auf die Gefahr hin als Verschwörungstheoretiker verschrien zu werden – wenn man sich das anschaut, dann fragt man sich ernsthaft, ob das nicht auch einfach Kalkül ist, damit wir Frauen nicht zu viel sagen haben. Denn eigentlich kann eine Wirtschaftsnation wie wir es sind es sich gar nicht leisten, hochqualifizierte Arbeitskräfte in die Küche zu stellen, deren Ausbildung ein Vermögen gekostet hat. Das macht keinen Sinn. Aber trotzdem wird immer noch an 40 Stunden Woche festgehalten.

Camilla: Noch viel zu wenig Führungspositionen werden durch Frauen besetzt. Bei uns in Deutschland herrscht allgemein noch viel zu häufig die 9to5-Mentalität. Es muss sich nicht erst bei den Eltern etwas ändern, sondern schon viel früher. Die Basis sollte Vertrauensarbeitszeit bzw. flexible Arbeitszeiten sein, damit so auch familienfreundlichere Strukturen geschaffen werden können. Es sind natürlich noch größtenteils die Frauen, die in Elternzeit und anschließend in Teilzeit gehen – aber das liegt nicht nur an der Mutter-Vater-Rollenverteilung, sondern oft auch einfach an der Tatsache dass der Mann mehr verdient. Bevor wir hier nicht grundsätzlich Gleichberechtigter auf dem Arbeitsmarkt sind, wird es auch für Mütter keine wirkliche Verbesserung geben. Und auch wenn wir selbst nicht mehr vor dieser Problematik stehen, so möchten wir es für die Frauen und Mütter die Folgen unbedingt ändern.

FS: Sich gegenseitig wie bei den Social Moms zu unterstützen, ist prima. Was ist aus Ihrer Sicht jedoch politisch und gesellschaftlich notwendig, damit reale Veränderungen im Alltag stattfinden?

Tanya: Familie muss in den Fokus der Politik!

Camilla: Zuerst einmal ist es wichtig, dass wir uns stärker politisch einbringen. Das habe ich jahrelang verdrängt, aber ohne uns funktioniert das System natürlich nicht. Und was wir Frauen doch fantastisch können ist Netzwerken. Wir behalten oft die Nerven in brenzligen Situationen, haben selten ein Ego-Problem und sollten all das besser einsetzen. Gleichzeitig müssen wir uns bewusst machen, dass wir wirklich aktiv werden müssen, um die Zukunft zu gestalten. Es liegt quasi alles in unserer Hand – wir dürfen nur nicht darauf warten, dass jemand anders für uns ein Idealmodell entwickelt.

FS: Machen wir Frauen uns vielleicht manchmal auch was vor? Ist eine Vereinbarung von Job und Familie überhaupt so möglich, wie wir das gerne hätten?

Camilla: Warum? Es ist alles machbar – es ist nur vielleicht nicht alles 100-prozentig parallel zu schaffen. Frauen waren schon immer eine Arbeitskraft, nicht nur diejenigen, die sich um die Familie kümmert. Dieses Modell kam doch überhaupt erst nach dem zweiten Weltkrieg in Westdeutschland zustande. Aber natürlich ist ganz klar, dass wir nicht parallel 100 Prozent Mutter, 100 Prozent Hausfrau und 100 Prozent Karrierefrau zur gleichen
Zeit sein können. Wir brauchen realistische Modelle und Vorbilder, aber vor allem brauchen wir eine echte Wahl, die uns nicht im Alter in die Altersarmut treibt, weil die Partnerschaft vielleicht doch nicht gehalten hat und die Versprechen von vor 20 Jahren vergessen sind.

Tanya: Ich habe dem nicht viel hinzuzufügen. Es ist ja auch nicht so, dass Kinderbetreuung allein auf Frauenseite liegen muss. Vereinbarung heißt nicht, dass man gute Möglichkeiten findet, damit die Frau arbeitet, sondern das man in dem Konstrukt Familie eine gute Balance für alle findet. Das heißt auch nicht zwingend alles 50/50, aber eben so verteilt, das es für alles Sinn macht. Und Veränderungen sind mit inbegriffen.

FS: Wir blicken ins Jahr 2030: Wie hat sich die Berufswelt speziell mit dem Blick auf Familie und Beruf verändert?

Tanya: Ich wünsche mir Arbeitgeber, die Familien als Bonus und nicht als Makel sehen. Die nicht denken “Ah, 'ne Mutter, da sind die Kinder immer krank”, sondern zu schätzen wissen, wie flexibel und schnell wir arbeiten. Ich wünsche mir mehr Betreuungsmöglichkeiten, denn das ist ein Schlüssel, damit alle die Familien haben auch arbeiten können.

Camilla: Und ich wünsche mir eine Selbstverständlichkeit bei Vätern, dass sie Elternzeit nehmen und dass Arbeitgeber sie deswegen auch nicht schief anschauen, sondern unterstützen. Und die Arbeitgeber werden sich wundern, was für loyale Mitarbeiter sie bekommen, wenn die sehen, das ihr Familienleben erwünscht ist.

FS: Welche 3 Tipps würden Sie jeder berufstätigen Mutter geben?

Tanya: Schau erstmal was du brauchst und was zu dir passt in deiner Lebenssituation. Spreche dich mit deinem Partner ab: Wer kann/will was wann machen? Wenn das Arbeitsumfeld nicht stimmt, dann suche nach einem besseren Ort. Es lohnt sich nicht gegen Windmühlen zu kämpfen. Suche das Gespräch mit dem Chef und den Kollegen – manche Fragezeichen lösen sich auch dadurch auf. Und ganz wichtig: Es gibt eine Zeit für alles: Es gibt eine Zeit für Karriere, für Kinder, für Familie, für sich selbst. Alles auf einmal kann nur zur Überforderung führen.

Camilla: Absolut. Ich würde gerne noch ergänzen, dass man sich nicht zu viel zumuten sollte. Es muss nicht alles auf einmal und zur selben Zeit passieren. Viele Mütter haben das Gefühl, dass JETZT die Zeit ist, in der sie alles schaffen müssen. Letztlich stimmt das so aber gar nicht. Also habt nicht so hohe Ansprüche an euch selbst. Geht nicht so hart mich euch ins Gericht, sondern schaut, dass die Umstände auch stimmen. Und, noch ein ganz wichtiger Punkt in meinen Augen: Vertraut auf das was ihr könnt und lasst euch nicht vom Chef klein machen. Ihr wisst welche Expertise ihr mitbringt und was ihr könnt – und das hat einen hohen Wert!

Wer möchte nicht gerne mehr im Job erreichen? Sich auf die Karriereleiter zu begeben bedeutet nicht, die Stufen nach oben zu fliegen, sondern hinter einer...
Weiterlesen
Lade weitere Inhalte ...