Das Bauchgefühl

Das Bauchgefühl

„Wir sind die Summe unserer Entscheidungen“, behauptete der Dichter Albert Camus. In jedem Fall ist es gut zu wissen, wie man eine kluge Wahl trifft – zum Beispiel mit ganz viel Intuition

Das Bauchgefühl© Marc Dietrich -Fotolia
Das Bauchgefühl

Noch nie hatten wir so viele Möglichkeiten wie heute. Der Sozialpsychologe Barry Schwartz spricht gar von einer „Tyrannei der Auswahl“. Früher glich das Leben zum Großteil einem vorgezeichneten Trampelpfad. Der Sohn des Schusters wurde eben Schuster, so wollte es der Brauch. Die Tochter heiratete den Krämersohn aus dem Nachbardorf, so wollte es der Vater. Auch die Religionszugehörigkeit war von Geburt an festgelegt. Heute liegt unser Leben vor uns wie ein Film, dessen Drehbuch wir schreiben, während wir zeitgleich als Hauptdarsteller darin agieren. Schon toll, aber eben auch anstrengend. Besonders für unser Gehirn. Unsere Wahlmöglichkeiten sind so groß, dass uns häufig das Gefühl beschleicht, mit dem getroffenen Entschluss vielleicht doch einen Fehler gemacht zu haben. Schließlich ist jede Entscheidung für etwas zugleich eine Entscheidung gegen etwas anderes. Und die Fülle der Argumente, die dafür oder dagegen sprechen, macht die Sache auch nicht leichter. Vieles ist so komplex, dass es unmöglich ist, alle Auswahlkriterien zu berücksichtigen.

Das richtige Mischungsverhältnis von Gefühl und Verstand

Wie schaffen wir es dennoch, laufend kleine und größere Entscheidungen zu treffen? Wie laufen diese Prozesse ab – und welche Faktoren bestimmen das Ergebnis? Für diese Fragen interessieren sich Hirnforscher und Psychologen seit einigen Jahren brennend. Ihre Erkenntnisse sind nicht nur für den wissenschaftlichen Fortschritt interessant, einige können uns auch helfen, ab sofort bessere Entscheidungen zu treffen. Zum Beispiel, indem wir das jeweils richtige Mischungsverhältnis von Gefühl und Verstand einsetzen. Eine geradezu revolutionäre Erkenntnis aus der Hirnforschung widerlegt, was jahrzehntelang als Tatsache galt: dass Gefühle die natürlichen Feinde guter Entscheidungen sind. Neueste Forschungsergebnisse beweisen das Gegenteil: Gefühle sind hochkonzentriertes Wissen, das tief in unserem Inneren gespeichert und dort jederzeit abrufbereit ist. Dieses innere Wissens-Reservoir, man kann es auch Intuition oder Bauchgefühl nennen, sortiert Informationen blitzschnell in „wichtig“ und „unwichtig“, damit wir nicht an der Masse der auf uns einprasselnden Informationen ersticken. Und es gibt uns Faustregeln an die Hand, mit denen wir uns im Leben einigermaßen durchwursteln können. Mit unserem inneren „Wahl-Automaten“ entscheiden wir bis zu 100 000- mal am Tag: Beim Autofahren müssen wir nicht überlegen, ob wir einen Gang hochschalten sollen. Beim Gehen muss nicht jeder Schritt bedacht werden. All dies erledigen wir mit traumwandlerischer Sicherheit.

Doch nicht nur für automatische Abläufe ist dieses innere Wissens-Reservoir praktisch. Es hilft auch, im Alltag schnell und sicher zu entscheiden. Denn es bietet uns die Möglichkeit, einen Teil der Entscheidungsfindung unserem Unterbewusstsein anzuvertrauen, statt ständig Vor- und Nachteile gegeneinander abzuwägen. Wenn wir diese Abkürzungs- Strategie häufig anwenden, verbessert das nachweislich unsere Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen. Denn auch hier macht Übung den Meister. „Es gibt viele Situationen, in denen Ältere von ihrer größeren Lebenserfahrung profitieren“, sagt Dr. Hauke Heekeren, Forscher am Neurowissenschaftlichen Zentrum der Berliner Humboldt-Universität. Schränkt aber gleich wieder ein: „Wenn es jedoch darauf ankommt, Entscheidungen rasch einer veränderten Situation anzupassen, sind jüngere Menschen wesentlich flexibler.“ Etwas, das alle Eltern nachvollziehen können, wenn sie ihren Kindern ein neues Handy geben und die seine ganzen Funktionen innerhalb kürzester Zeit kapiert haben. Und etwas, das Kinder nachvollziehen können, wenn sie sehen, mit welcher Schnelligkeit und Sicherheit ihre Eltern brenzlige Situationen zwischenmenschlicher Art wittern und rechtzeitig gegensteuern.

Der innere Autopilot

Unser innerer Autopilot funktioniert immer dann besonders gut, wenn er zum Thema schon ausreichend Entscheidungsgrundlagen gespeichert hat. Wenn hingegen völlig neue Faktoren im Spiel sind, für die das Unterbewusstsein noch nicht genug vergleichbare Erfahrungen gesammelt haben kann, ist es besser, den rationalen Verstand verstärkt einzusetzen. Wieder anders ist die Lage, wenn bei Entscheidungen viele Kriterien zu berücksichtigen sind, etwa beim Kauf eines neuen Autos. Der holländische Psychologe Ap Dijksterhuis hat in einem viel beachteten Experiment herausgefunden: Mit mehr als zwölf Informationen ist das bewusste Denken überfordert. Die Kapazität des Unterbewusstseins ist viel größer. Bei komplexen Entscheidungen ist es deshalb besser, nicht zu lange nachzugrübeln. Die Richtigkeit intuitiver Entscheidungen lässt sich natürlich nicht immer nachprüfen. Wer sich, einfach aufgrund eines mulmigen Gefühls, gegen eine Wohnung entscheidet, obwohl sie von Preis, Lage und Ausstattung den eigenen Kriterien entspricht, wird wohl nie erfahren, ob er nicht vielleicht doch glücklich damit geworden wäre.

Vor allzu blindem Vertrauen in das Unterbewusstsein warnt Ori Brafman, Autor des US-Bestsellers „Kopflos – Wie unser Bauchgefühl uns in die Irre führt“: „Wir verwenden zu viel Zeit und Gedanken auf relativ Unwichtiges wie ,Welche Frühstücksflocken soll ich kaufen?‘ und zu wenig an Wichtiges wie ,Soll ich diesen Mann wirklich heiraten?‘.“ Bei kleinen Entscheidungen ist es okay, Fehler zu machen, aber bei den großen, wichtigen empfiehlt Brafman, sich Zeit zu nehmen, mit anderen Menschen zu beraten und sorgfältig abzuwägen.

Es gibt keine rein rationalen Entscheidungen

Wir wissen heute, dass es keine rein rationalen Entscheidungen gibt. Bei jeder Entscheidung ist das limbische System beteiligt, das für Gefühle zuständig ist. „Unser Gehirn arbeitet stark vernetzt. Daher sind Entscheidungen sehr komplex und selbst für den entscheidenden Menschen bisweilen überraschend. Zum Beispiel, wenn er abnehmen will und dann doch kurzfristig die Torte wählt“, sagt der Hirnforscher Professor Manfred Spitzer von der Universität Ulm. Wie wichtig das Zusammenspiel von Ratio und Emotion ist, erklärt dieses Beispiel: Wurde der präfrontale Cortex eines Menschen durch einen Unfall zerstört, ist damit eine wichtige Verbindung zwischen den Regionen des kognitiven Denkens und dem limbischen System unterbrochen. Diese Menschen können dann ebenso rational denken wie jeder andere, aber Werte wie Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Treue fließen nicht ein.

Trotz aller Forschungsergebnisse wird die Entscheidungskompetenz unseres Unterbewusstseins immer wieder angezweifelt. In der westlichen Kultur gelten nach wie vor rationale Entscheidungen als das Nonplusultra. Logik und Vernunft sind die Väter von Pro-und-Contra-Listen, die uns im günstigsten Fall ein gewisses Sicherheitsgefühl geben. Oft sorgen sie jedoch für Verwirrung: wenn wir fühlen, dass das Ergebnis nicht die Entscheidung ist, die wir wirklich treffen wollen. Natürlich ist es gut, erst einmal Fakten zu sammeln und nachzudenken. Das Sichten und Sammeln gibt uns ein Gefühl von Sicherheit – auch wenn die Entscheidung dann vielleicht ganz anders ausfällt, als sie es aufgrund der Faktenlage müsste. Der zweite wichtige Schritt ist, die Sache danach erst einmal zu vergessen. Am besten über Nacht. Während wir selig schlummern, arbeitet unser Unterbewusstsein an der Lösung des Problems weiter. Mit Mitteln, die uns im Wachzustand nicht zur Verfügung stehen, gleicht es unsere Werte und Gefühle mit den Argumenten ab – und am Morgen haben wir Gewissheit. Professor Spitzer: „Im Schlaf arbeitet das Gehirn ungestört, wägt ab, verknüpft, assoziiert – und am Morgen liefert es die Entscheidung fix und fertig auf dem Silbertablett!“

Interview


INTERVIEW

Was unser Bauch sagt, bestimmt das Gehirn

Dr. Michael Deppe ist Mitglied einer Forschungsgruppe der Poliklinik für Neurologie an der Uni Münster. Sie untersucht mit funktioneller Bildgebung, wie Entscheidungen ablaufen

Wie und wo werden Entscheidungen im Gehirn getroffen? Es gibt im Gehirn kein „Entscheidungszentrum“, sondern ein Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Hirnstrukturen. Grob unterscheidet man zwei Wege: Bei rational geprägten Entscheidungen, wie etwa der Wahl des günstigsten Stromanbieters, werden auf der Hand liegende Faktoren mittels klarer Entscheidungsstrategien verarbeitet. Dabei sind hauptsächlich Hirnregionen aktiv, die wir zum Rechnen benötigen. Sie liegen üblicherweise im seitlichen linken Stirnhirn und im Scheitellappen. Zum anderen kennen wir emotional geprägte Entscheidungen, die sogenannten „Bauchentscheidungen“. Auf dieser Ebene sind wir viel leichter beeinflussbar.

Und wo werden diese Bauchentscheidungen getroffen? Ebenfalls im Gehirn. Allerdings sind hierbei ganz andere Areale als bei rationalen Entscheidungen aktiv. Zum Beispiel der untere Bereich des mittleren Stirnhirns. Dieser Teil der Großhirnrinde ist stark mit Hirnbereichen vernetzt, die für die Verarbeitung von Körperzuständen wie Emotionen und Schmerzen zuständig sind. Der „Bauch“ steht also hier praktisch stellvertretend für den Körper.

Wie macht die Forschung diese Gehirnprozesse sichtbar? Wir verwenden die funktionelle Magnetresonanztomografie. Damit werden dreidimensionale Aufnahmen des Gehirns gemacht, mit denen regionale Veränderungen der Hirnaktivität nachweisbar sind.

Ist unser Gehirn unter Stress entscheidungsfreudiger? Auf jeden Fall. Entscheidungen blitzschnell und effizient ablaufen zu lassen – das ist vermutlich die wichtigste Eigenschaft der Emotionen. Denken Sie nur mal, ein Frosch würde lange überlegen, wenn sich ein Storch nähert. Aber messen Sie mal seine Stresshormone, gleich nachdem er erfolgreich geflüchtet ist!

Wie viele Informationen benötigt unser Gehirn, um eine gute Entscheidung zu treffen? Die Menge ist nicht der wesentliche Punkt. Die Frage ist eher: Welche Art von Informationen verrechnet unser Gehirn für eine gute Entscheidung? Gerade bei Entscheidungen unter Unsicherheit – und das sind ja die wirklich relevanten – werden unbewusst viele zurückliegende persönliche emotionale Erinnerungen reaktiviert. Umgangssprachlich bezeichnen wir dies als Intuition. Häufig erweisen sich ja Entscheidungen gegen die Intuition später als falsch.

Welches Ergebnis macht langfristig zufriedener: die schnelle oder die sorgfältig abgewogene Entscheidung? Bauchentscheidungen sind schnell und stelllen sich sehr oft als richtig heraus. Ihnen liegen viele wichtige persönliche Dinge bereits zugrunde. Weil sie emotional gesteuert sind, ist die Gefühlskomponente schon im Gehirn „verrechnet“ worden. Bei Kopfentscheidungen bleibt das Gefühl unberücksichtigt – das kann zur Folge haben, dass man später mit dem Ergebnis nicht glücklich ist.

8 gute Tipps


Kopf oder Bauch?

Acht gute Tipps für bessere Entscheidungen

  • 1. Treffen Sie keine wirklich wichtige Entscheidung, ohne andere Menschen zu fragen.
  • 2. Malen Sie sich aus, wie das Ergebnis im schlimmsten und im günstigsten Fall aussieht.
  • 3. Denken Sie langfristig. Wie würde sich die gefällte Entscheidung in zehn Jahren für Sie anfühlen?
  • 4. Üben Sie mit einfachen Situationen. Mit der Zeit koordinieren sich Bauchgefühl und Verstandesbewertung.
  • 5. Hören Sie auf Ihre Intuition, aber überlassen Sie ihr nicht die gesamte Entscheidung.
  • 6. Schlafen Sie eine Nacht darüber. Ihr Unterbewusstsein arbeitet, während Sie schlafen, an der Lösung.
  • 7. Wählen Sie bei komplexen, aber nicht so wichtigen Entscheidungen den schnellen, intuitiven Weg.
  • 8. Nehmen Sie sich bei wichtigen Dingen Zeit, Fakten und Gefühle abzugleichen.
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