Kolumne: Und was, wenn ich heute einfach nicht dankbar bin?

Und was, wenn ich heute einfach nicht dankbar bin?

Im wahrsten Sinne ein Zauberwort – warum wir uns selbst viel öfter "Danke" sagen sollten, das hat mir Dominik Spenst, der Autor des 6-Minuten-Tagebuchs, in einem Interview verraten.

Wie heißt nochmal das Zauberwort? Zitat – meine Mutter. Wobei sie mit Sicherheit nicht die Urheberin von diesem Satz ist, den wir wahrscheinlich alle noch aus unserer Kindheit kennen. Was unsere Eltern damals nicht ahnen konnten: Heute ist Dankbarkeit schon fast so etwas wie ein Trend. Dankbarkeit hat nämlich eine Menge positive Auswirkungen. Und zwar auf alles. Wer dankbar ist, soll sich besser fühlen, bessere Beziehungen führen, seltener unter Angst, Stress, Depressionen und körperlichen Krankheitssymptomen leiden. Meist richten wir unseren Fokus nämlich auf die Dinge, die uns im Leben fehlen – weil das, was wir haben, selbstverständlich für uns ist.

Heute bin ich alles, aber auch alles andere als dankbar

Die gute Nachricht – Dankbarkeit lässt sich trainieren. Und wie bei jedem anderen Training auch, kann sie zur Gewohnheit werden, wenn wir sie nur regelmäßig in unseren Alltag integrieren. Zum Beispiel als Morgenritual. Die schlechte Nachricht – bei mir hat es bisher nicht funktioniert. Wenn ich mal wieder auf Autopilot durchs Lebe hetze und selbst dann noch die Zeit finde, nach Fehlern zu suchen. An mir, an meinem Aussehen, an all dem, was bei anderen viel besser zu klappen scheint. Dann bin ich wirklich alles, aber eben auch alles andere als dankbar.

Wo fängt Dankbarkeit an – und wo hört Achtsamkeit auf?

Dabei versuche ich ja, dankbar zu sein, ich versuche es wirklich. Ich schreibe zwar nicht in ein Dankbarkeitstagebuch, bin aber toll darin, die kleinen Dinge zu schätzen, gehe achtsam durch das Leben und sehe oft, was andere nicht sehen. Aber ist das wirklich Dankbarkeit? Am Wochenende war ich zum Beispiel ganz verzückt von der Crema auf meinem Kaffee. Die war so fluffig, in einem hübschen Beige. Und dann schien auch noch die Sonne in mein Wohnzimmer und alles war so, hach, total instagrammable halt. "Wie schön kann ein Kaffee bitte sein?" habe ich mich gefragt – aber eben auch, ob ich jetzt gerade dankbar, oder einfach nur achtsam bin.

Dominik Spenst im Interview: "Wir Menschen sind nicht die Dankbarsten unter der Sonne"

Wenn es jemanden gibt, der mir all meine Fragen zum Thema Dankbarkeit beantworten kann, dann ist es wohl Dominik Spenst. Er ist Autor des 6-Minuten-Tagebuchs, dem erfolgreichsten Journal der Welt. Das 6-Minuten-Tagebuch hilft uns nicht nur, herauszufinden, was uns wirklich glücklich macht – sondern auch, positive Gewohnheiten wie Dankbarkeit, Optimismus und Selbstliebe in unserem Alltag zu etablieren. Warum es uns so schwerfällt, dankbar zu sein? Das hat mir Dominik Spenst im Interview verraten.

Wie kann Dankbarkeit unser Leben verändern?

Könnte man Dankbarkeit in Pillenform erwerben, würden wir wohl über das meistverkaufte Medikament aller Zeiten sprechen, denn mittlerweile zeigen etliche anerkannte Studien: Wer dankbar ist, kann positive Gefühle mehr genießen und erlebt langfristig weniger negative Gefühle. Wer dankbar ist, hat ein erhöhtes Selbstwertgefühl und kann leichter mit Stress umgehen. Wer dankbar ist, schläft besser und hat ein stärkeres Immunsystem.

Könnte es sein, dass wir uns gegenüber viel zu oft undankbar sind?

Rein evolutionsbedingt sind wir Menschen nicht die Dankbarsten unter der Sonne, denn wir nehmen das Negative drei bis vier Mal stärker wahr als das Positive. Negative emotionale Erfahrungen, schlechtes Feedback und unangenehme Erinnerungen haben also einen viel stärkeren psychologischen Einfluss auf uns als die positiven Gegenstücke. Deshalb sind wir nicht nur den Menschen um uns herum, sondern auch uns selbst gegenüber viel zu oft undankbar. Ohne Dankbarkeit gegenüber uns selbst können wir aber unmöglich ein gesundes Selbstwertgefühl aufbauen.

Kann man Dankbarkeit lernen?

Dankbarkeit muss man sogar lernen, genauso wie das Gehen oder Sprechen. Allerdings sind unsere Beine zum Gehen gemacht, unser Mund zum Sprechen – unser Gehirn aber nicht für Dankbarkeit. Das menschliche Gehirn hat sich über 2 Millionen Jahre lang mit genau einem Ziel entwickelt: Überleben. Und Überleben war nur möglich, wenn das Gehirn permanent nach Dingen sucht, die gerade falsch laufen bzw. eine Bedrohung für unser Überleben darstellen könnten. Evolutionsbedingt reagieren wir also schneller und stärker auf negative Einflüsse und bewerten Negatives über. Zufriedenheit und Dankbarkeit? Das sind nicht die Hauptinteressen des Gehirns, da solche Gefühlslagen im Überlebenskampf eher schädlich waren. Zum Glück ist es wissenschaftlich erwiesen, dass wir den evolutionären Miesepeter in unserem Kopf überlisten können – und zwar durch regelmäßiges Üben.

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Das 6-Minuten-Tagebuch wurde mittlerweile knapp 2 Millionen Mal verkauft und in 21 Sprachen übersetzt. Hier geht es direkt zum Online-Shop >> Wissenschaftlich fundierte Praxistipps für alles, was das Leben glücklicher und erfolgreicher macht, gibt es außerdem im 6-Minuten-Podcast mit Dominik Spenst.

Wie lerne ich, mir selber „Danke“ zu sagen?

Ich erachte die Dankbarkeit an sich selbst als vielleicht sogar die wichtigste Form der Dankbarkeit. Denn wer nach innen wahre Dankbarkeit fühlt, kann diese auch nach außen fühlen. Ein passendes Ritual, das übrigens auch viele Menschen mit dem 6-Minuten Tagebuch machen: Schreib dir jeden Tag drei Dinge auf, für die du dir selbst dankbar bist. Und wenn dir das zu Beginn schwerfällt, dann nimm einfach drei Dinge, die du heute an dir magst oder die du heute gut gemacht hast. Und wenn dir auch das schwerfällt, dann starte mit genau einer Sache. Die findest du bestimmt.

Und was mache ich an Tagen, an denen ich für so gut wie gar nichts dankbar bin?

Der englische Dichter John Dryden hat mal gesagt: Zuerst erschaffen wir unsere Gewohnheiten und dann erschaffen sie uns. Wenn man sich Dankbarkeit aktiv zur Gewohnheit macht, werden diese Tage definitiv immer seltener und seltener. Vor allem, wenn man den Tag direkt mit Dankbarkeitsübungen startet, ist dieser Effekt besonders stark, denn so wie man den Tag startet, wird er oftmals auch.

Was ist der Unterschied zwischen Dankbarkeit und Achtsamkeit?

Man kann Achtsamkeit zwar auch ohne Dankbarkeit praktizieren, aber man kann nicht dankbar sein, ohne dabei nicht wenigstens ein bisschen achtsam zu sein. Dankbarkeit ist für mich Teil einer Achtsamkeitspraxis, bei der es darum geht, seinen Fokus auf das Gute in dir – und um dich herum – zu richten. Bei Achtsamkeit geht es in der traditionellen Definition erstmal nur darum, die Dinge wahrzunehmen, wie sie sind, ganz ohne Bewertung.

Mein besonderer Dank geht an …

Was sich nach meinem Gespräch mit Dominik Spenst definitiv geändert hat, ist meine Einstellung zum Thema Dankbarkeit. Ich weiß jetzt, dass es völlig normal ist, auch mal undankbar zu sein (die Evolution ist schuld!) – aber auch, dass es sich lohnt dranzubleiben. Und um nochmal auf die Crema zurückzukommen: Ja, in diesem Moment war ich in erster Linie achtsam. Aber vielleicht auch ein klein wenig dankbar. Für den Kaffee, mein wunderschönes Zuhause, die Sonne. Für das Wochenende, das noch vor mir lag, die Menschen, mit denen ich es verbringen darf. Letztendlich hat all das dazugeführt, dass ich diesen Text hier schreibe. Und wo wir schon dabei sind: Danke auch an dich, lieber Dominik. Für dieses tolle Interview und deine Geduld. Danke.

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