Coco Mellors: Können Bücher das Leben verändern?

Es gibt Bücher, die möchte Online-Redakteurin und Literaturexpertin Isabell Stiller nicht mehr in ihrem Leben missen. Gilt übrigens auch für ihre Interview-Partnerin Coco Mellors, die Bestseller-Autorin hinter dem Roman „Cleopatra und Frankenstein“, der jetzt bei Eichborn erschienen ist - grandios übersetzt von Lisa Kögeböhn.

Wenn ich gefragt werde, was für mich das Schönste auf der Welt ist, kann ich mich unmöglich auf eine einzige Sache beschränken. Das Leben ist doch schließlich voll davon. Spontan fallen mir da etwa eisgekühlter Matcha Latte, Katzenöhrchen, Herbst und Zimtschnecken ein. Müsste ich mich aber auf eine einzige Sache festlegen, dann wären es wohl: Bücher! Da besteht gar kein Zweifel.

Für ein gutes Buch nehme ich mir gerne Zeit

Ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als meine Liebe zum Lesen entfacht wurde. Ich muss zwischen vier und fünf gewesen sein. Meine Mutter saß gerade auf der Kante meines Bettes. In ihren Händen hielt sie ein Buch von Pipi Langstrumpf. Wie oft sie mir aus diesem Buch vorgelesen hat, weiß ich nicht mehr genau. Irgendwann hatte ich das ständige Zuhören jedoch gehörig satt. Ich wollte selbst auf Lesereise gehen. Noch bevor es in die Grundschule ging, lernte ich das ABC also auswendig - und vergrub meine Nase fortan natürlich viel lieber in Geschichten, statt in Büchern über Mathematik und Co.

An dieser Liebe hat sich bis heute nichts geändert. Auch wenn die Zeit mittlerweile deutlich knapper ist und der Lesestapel immer höher wird. Für ein gutes Buch nehme ich mir gerne Zeit. Warum ich lese? Weil Bücher mich nicht einfach nur unterhalten oder ich von jetzt auf gleich in eine völlig andere Welt eintauchen kann. Bücher können noch viel mehr.

Bücher können Muntermacher, Seelentröster, Entertainer und Lebensretter sein

Bücher können Muntermacher, Seelentröster und Entertainer sein. Und ja, sie können auch das eigene Leben verändern. So hat mich Joan Didion mit ihren Worten in "Das Jahr des magischen Denkens" vor gut fünf Jahren durch eine sehr schwere Zeit geführt. Gleiches gilt für Dolly Alderton und Susan Sontag. Nicht zu vergessen Kästner, Ende, Kafka und Hemingway. Und natürlich die Engländerin Coco Mellors, die ich erst kürzlich für mich entdeckt habe, aber schon jetzt nicht mehr in meinem Bücherregal missen möchte.

Das Leben ist nicht immer eitel Sonnenschein und das ist gut so

Mit ihrem Debüt "Cleopatra und Frankenstein" eroberte die in Los Angeles lebende Londonerin die sozialen Medien vergangenes Jahr im Sturm. Nun erscheint ihr Roman endlich auf Deutsch. Im Mittelpunkt der Liebesgeschichte stehen Cleo und Frank, die nach einer völlig überstürzten Hochzeit mit der harten Realität konfrontiert werden. Eine Geschichte, die vor allem eines deutlich macht: Die Liebe und das Leben an sich sind nicht immer eitel Sonnenschein. Auch Cleo und Frank wirken auf den ersten Blick perfekt. Der Schein trügt jedoch gewaltig.

Mellors extrahiert das Unperfekte aus dem Perfekten

Coco Mellors ist eine Meisterin darin, das Unperfekte aus dem Perfekten zu extrahieren. Das ist hart, aber auch sehr echt. Menschlich, nahbar und tröstlich. Weil es uns daran erinnert, dass Scheitern, Schwächen und Ängste in Zeiten perfekt aufpolierter Insta Feeds zum Leben dazugehören. Mit dieser schonungslos ehrlichen Sichtweise, die natürlich auch das Schöne nicht aus den Augen verliert, scheint Mellors jedenfalls genau ins Schwarze (oder besser gesagt) in die Herzen zu treffen. Das Leben kann manchmal unheimlich schön, aber eben auch sehr grausam sein. Da hilft es auch nicht, sich hinter einem der vielen Filter zu verstecken, die den schönen Schein 24/7 aufrechterhalten. Müssen wir aber auch gar nicht. "C'est la vie!", würde uns die frankophile Cleo aus Coco Mellors Roman jetzt vielleicht hinterherrufen, wenn sie könnte. Und das ist gut so.

Coco Mellors befindet sich gerade übrigens mitten im Umzugsstress. Zwischen L.A und New York hat die Autorin es aber trotzdem geschafft, ein paar Fragen für mich zu beantworten. Wer und was Coco Mellors inspiriert, wie sie auch nach rund 30 Verlags-Absagen nicht den Glauben an ihren Roman verloren hat und welches Buch gerade auf ihrem Nachttisch liegt, all das und vieles mehr hat sie mir im Interview verraten.

Interview: Können Bücher das Leben verändern, Coco Mellors?

Isabell Stiller: Drogen, Alkohol, Depression und Scheitern. Ihr Roman steckt voller "Tabus". Tabus, über die wir definitiv mehr sprechen und schreiben sollten. Die Menschen scheinen das ständige Versteckspiel in den sozialen Medien und im echten Leben jedenfalls ziemlich satt zu haben. Sie wollen echte Menschen, echte Probleme und echte Bücher. Was denken Sie darüber?

Im Laufe meines Lebens war die Fiktion immer ein Ort für mich, an dem ich Trost oder Anschluss gesucht habe, wenn ich mich besonders allein gefühlt habe. Ich glaube, dass gerade die Teile von uns, die uns am meisten beschämen - Tabus wie Sucht, psychische Erkrankungen oder Misserfolge - uns am tiefsten mit anderen und mit unserer eigenen Menschlichkeit verbinden. Es kann so heilsam sein, diese Art von Erfahrungen in fiktiven Charakteren widergespiegelt zu sehen, denen wir privat und mit weniger Urteil begegnen können und einen Charakter nicht nur trotz, sondern gerade wegen seiner Fehler und Mängel zu lieben. Und im Gegenzug wissen, dass auch wir mit all unseren Fehlern und Schwächen geliebt werden können.

Isabell Stiller: Die Buchgemeinde auf BookTok und Bookstagram hat sich sofort in ihren Roman verliebt. Davor wurden Sie von rund 30 Verlagen abgelehnt. Was hat Ihnen geholfen, weiterhin an sich selbst und Ihre Arbeit zu glauben?

Das Schreiben eines ersten Romans ist verdammt schwer und ich möchte, dass andere angehende Autoren wissen, dass es in Ordnung ist, wenn der Weg zur Veröffentlichung nicht immer so reibungslos und perfekt läuft, wie wir uns das vorstellen. Es war damals eine große Enttäuschung für mich, dass ich so kurz davor war, einen Buchvertrag zu bekommen. Ich habe die Hoffnung aber nie aufgegeben. Ich war froh, dass sich so viele Lektor:innen Zeit genommen haben, um mir zu erklären, welche Elemente noch nicht stimmig waren. Also habe ich das Buch über die Weihnachtsferien neu geschrieben. Es wurde schließlich in Großbritannien und den USA verkauft.

Isabell Stiller: Während Sie an "Cleopatra und Frankenstein" gearbeitet haben, haben Sie sich nicht nur von einem Typen, sondern auch vom Alkohol verabschiedet. Würden Sie sagen, dass das Schreiben Ihres Debüts Sie gerettet hat - oder dass Bücher im Allgemeinen das Leben eines Menschen verändern können?

Ich würde sagen, dass das Nüchternwerden mich gerettet hat. Das wiederum hat mir ermöglicht, den Roman zu beenden. Ich bin mir jedoch nicht sicher, ob das Schreiben allein das hätte bewirken können. Die schiere Anzahl erfolgreicher Schriftsteller, die Selbstmord begangen haben, von David Foster-Wallace und Ernest Hemingway bis hin zu Virginia Woolf und Sylvia Plath, zeigt mir, dass das Schreiben allein kein Weg zum Glück ist. Ich bin jedoch fest davon überzeugt, dass Bücher das Potenzial haben, unser Leben nachhaltig zu verändern und enorm viel Trost spenden können.

Isabell Stiller: Nicht nur das Schreiben, auch das Lesen kann uns helfen, schlechte Erfahrungen, Traumata und Probleme zu verarbeiten. Mal abgesehen von Ihrem Debüt: Welches Buch hat Ihnen in schwierigen Zeiten geholfen?

Ich habe Rebecca Lees Kurzgeschichtensammlung „Bobcat“ schon unzählige Male gelesen. Als ich im vergangenen Jahr eine Fehlgeburt hatte, bin ich noch mal zu ihrer letzten Geschichte „Die Siedler“ zurückgekehrt. Balsam für die Seele! In ihrem Schreiben steckt aber auch so viel Humor, Staunen, Wärme und Freude. Das hat mir dabei geholfen, viele gute Gefühle erneut zu erleben.

Isabell Stiller: Welche 3 Dinge haben Sie von Büchern gelernt?

Mitgefühl, Timing, Humor.

Isabell Stiller: Gibt es auch etwas, das Sie vom Schreiben gelernt haben?

Freude, Geduld, Beharrlichkeit.

Isabell Stiller: Welches Buch sollte wirklich jeder gelesen haben?

Klingt es abgedroschen, wenn ich Shakespeare empfehle? Ich finde, dass wirklich jeder seine Stücke lesen sollte - insbesondere die Tragödien.

Isabell Stiller: Welches Buch liegt gerade auf Ihrem Nachttisch?

"Sommer" von Edith Wharton.

Isabell Stiller: "Cleopatra und Frankenstein" wird verfilmt. Wie fühlt es sich an, an diesem Prozess beteiligt zu sein? Ihre Arbeit buchstäblich auf dem Bildschirm zu sehen?

In diesem Enwicklungsprozess involviert zu sein, habe ich sehr genossen. Darüber nachzudenken, wie man diese Charaktere auf eine neue Art und Weise zum Leben erwecken kann, ist faszinierend! Ich habe die Serie noch nicht auf dem Bildschirm gesehen, da wegen des Streiks* gerade alles auf Eis liegt – aber ich freue mich sehr auf den Tag, wenn es endlich so weit ist.

(*Anm. d. Red.: Schauspieler:innen und Autor:innen in Hollywood kämpfen aktuell für gerechtere Arbeitsbedingungen in der Film- und Fernsehbranche)

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