Die Magie des Singens: Stimmcoach Gerrit Winter im Interview

Stimmcoach Gerrit Winter hilft unserer Redakteurin, die Angst vor dem Singen zu verlieren und verrät uns im Interview, wie jeder von uns die Magie des Singens für sich entdecken kann – und was das mit mentaler Gesundheit zutun hat.

Singen kann so befreiend sein.

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Die Magie des Singens

Als 16-Jährige kam ich auf die verrückte Idee, Gesangstunden zu nehmen. Dabei hatte ich vorher noch nie wirklich gesungen, aber war neugierig und wollte es gern ausprobieren. Den schockierten Blick des Gesanglehrers, als ich die ersten Töne anstimmte, werde ich nie vergessen. Dass ich keine Whitney Houston bin, war mir ja bewusst, aber so schlimm? „Dich kann ich nicht unterrichten – du triffst ja keinen einzigen Ton!“, lautete bereits nach wenigen Minuten das vernichtende Urteil. Das saß! Und vor ein paar Jahren an Silvester dann Folgendes: Mit einigen Gin Tonics im Blut schmetterte ich beim Karaoke vor Freunden lautstark ABBAs „Happy New Year“: Die Töne gingen daneben, die Blicke aller Anwesenden betroffen und beschämt auf den Boden ... 

Jeder Mensch kann singen?

„Nie wieder kommt ein einziger Ton über meine Lippen!“, sage ich klagend zu Gerrit Winter, als ich ihn zum Thema Stimme interviewe. Denn Gerrit ist nicht nur Life-Coach, Theologe und Buchautor, sondern auch Sänger, Stimmcoach – und leitet den Mental Health Chorin Köln. Gerrit ist felsenfest davon überzeugt, dass es keinen Menschen gibt, der nicht singen kann. 
Pöh, der hat mich eben noch nicht gehört! „Komm zu mir nach Köln und sing mit mir – du wirst schon sehen ...“, sagt er. Ich bin eingeladen zu einer Probestunde! Ich glaube ihm kein Wort, bin jetzt aber trotzdem neugierig geworden. Auch auf den Mental Health Chor. Ganz ohne Perfektionismus zu singen, für die mentale Gesundheit, das klingt toll! 

Das Gesangstrauma

Der Gedanke lässt mich nicht los, und so sitze ich wenige Wochen später tatsächlich im Zug nach Köln und frage mich, was mich geritten hat. Wenn ich daran denke, dass mich morgen eine Einzelstunde bei Gerrit erwartet PLUS anschließender Teilnahme am Mental Health Chor – da kriege ich schon Schweißausbrüche. Wie konnte ich nur auf diese blöde Idee kommen? In Gerrits „Cologne Beach House“, einem schnuckeligen Hinterhofstudio, zögere ich den ersten gesungenen Ton dann auch möglichst lange hinaus. Und während ich den armen Mann in Grund und Boden quatsche, huscht mein Blick immer wieder ängstlich in Richtung Klavier. Das Trauma meiner ersten vernichtenden Gesangstunde hat mich voll im Griff. 

Die eigene Stimme entdecken

Als es letztlich kein Zurück mehr gibt und ich den ersten Ton singe, merke ich, wie Stimme, Hände und Knie um die Wette zittern. Aber: Hier läuft alles ganz anders. Kein judgy Blick, keine blöden Kommentare. Denn statt liefern oder leisten zu müssen, darf ich mich hier einfach ausprobieren. Was ist mit meiner Stimme überhaupt alles möglich? Wie klingt meine Brust-, wie meine Kopfstimme? Was passiert, wenn ich Atmung und Mundstellung variiere? Es gibt hier keine Bewertung, kein Richtig oder Falsch – nur loslassen und den Kopf abschalten. Bereits nach wenigen Minuten ist alle Anspannung und Angst verschwunden, ich werde immer lockerer und wage mich immer mehr aus meiner Komfortzone. Ich erschrecke selbst über diese kraftvollen Töne, die da plötzlich aus mir herauskommen. So fühlt sie sich also an – meine Stimme! Das bin ich! Bei dem Gedanken, was ich all die Jahre zurückgehalten habe, überrollen mich meine Emotionen, und es kullern tatsächlich ein paar Tränen. Ich kann gar nicht fassen, welche Power da in mir schlummert! Wahnsinn! 

Befreiend: Singen ohne Scham

Ausgelassen probieren Gerrit und ich jetzt rum, singen, tönen, lachen, tanzen – so frei habe ich mich ewig nicht gefühlt! Und ich wundere mich, warum Singen eigentlich immer mit so viel Scham behaftet ist – dadurch entgeht uns doch so vieles! Zum krönenden Abschluss schmettern wir dann noch „Flowers“ von Miley Cyrus – erst gemeinsam, dann ich allein. „Sing it, girl!“, feuert Gerrit mich an und zeigt auf mein Spiegelbild: „Schau mal, wie du strahlst!“ Er hat recht, ich sehe ganz anders aus – mit einem Leuchten in den Augen und gefühlt zwei Köpfe größer! 

Mental Health Chor: Singen für die Psyche

Doch es geht noch weiter: Nach dem Coaching schwebe ich wie auf Wolken durch den Raum, während der Mental Health Chor eintrudelt. Einmal im Monat trifft man sich hier im „Cologne Beach House“, heute sind knapp zwanzig Teilnehmer am Start, um gemeinsam zu singen. Und um eine riesige Portion Energie zu tanken, wie ich schnell merke. Denn die Atmosphäre ist warm und herzlich, ich werde sofort liebevoll aufgenommen. Das Tolle: Niemand muss Angst haben, vorgeführt zu werden, niemand singt allein, und man muss noch nicht mal die Songs kennen. 

Schon beim Einsingen reißen Gerrit und sein Pianist Christoph mit ihrer geballten Lebensfreude jeden mit. Notenblätter? Gibt’s hier nicht. Lediglich die Texte werden verteilt – alle Songs haben eine positive Message und verbreiten Happiness pur. „Leute, ihr seid der Hammer, ich hab eine Gänsehaut!“, ruft Christoph beim großen Finale zu einem Song aus „Greatest Showman“. Da kann ich mich nur anschließen. Es ist überwältigend, meine Stimme gemeinsam mit den anderen zu hören und zu spüren – und dabei den kritischen Selbstbewertungsschalter einfach mal auf „Aus“ zu stellen. 

Gesangsstunde? Effektiver als jeder Lebensratgeber

Nach der Probe strahlen wir alle um die Wette, und es gibt noch viele tiefe und inspirierende Gespräche, bevor ich mich in meiner Glücksblase auf den Weg zum Bahnhof mache. Alles in mir fühlt sich so unfassbar lebendig an – das konnte bisher weder ein Yoga-Retreat am Meer noch das Wälzen sämtlicher Coaching-Ratgeber leisten. Vielleicht, weil Kopf und Verstand heute ausgeschaltet waren – und alles über Emotion und Körper ging. Der fühlt sich jetzt auch ganz wach und kraftvoll – komplett im Hier und Jetzt. Während ich diesen unglaublichen Tag im Zug Revue passieren lasse, ploppt auf meinem Handy eine Nachricht auf. Gerrit schreibt: „Verteidige dein Strahlen und deine Leichtigkeit mit deinem Leben.“ Und ob!

Gerrit Winter ist Sänger, Coach, Theologe und Autor. Mehr Infos finden Sie unter gerrit-winter.de >>

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Stimmcoach Gerrit Winter im Interview: „Für die mentale Gesundheit gibt es nichts Besseres, als gemeinsam positive Musik zu zelebrieren“

Menschen über ihre Stimme zu empowern – das liegt Gerrit Winter am Herzen. Hier spricht der Sänger, Coach, Theologe und Autor („Sei eine Stimme, nicht nur ein Echo“ und „Das Abenteuer Hingabe“) über die Magie des Singens, das Finden der eigenen Stimme – und was das Ganze mit mentaler Gesundheit zu tun hat. 

Für-Sie-Redakteurin Michalea Puschmann: Das Stimmcoaching hat bei mir mehr Blockaden gelöst als jede andere Coaching-Methode zuvor. Warum? 

Was uns Menschen davon abhält, die beste Version von uns selbst zu sein, sind die zwei Sch-Wörter: Schuld und Scham. Und wenn wir die beim Singen überwinden, öffnen sich Tür und Tor. Stresshormone werden abgebaut, Glückshormone ausgeschüttet. So gelangen wir ohne Umwege zum Gefühlszentrum. Einige weinen dann, andere lachen, werden albern – ein krasser Effekt! 

Aber warum ist Singen denn überhaupt mit Scham verbunden? 

Das liegt an unserer Sozialisation. Ich hatte in der Schule „Punktesingen“. Was kann schlimmer sein, als allein vor der ganzen Klasse singen zu müssen, um Punkte zu bekommen? Das ist Folter! In den USA ist das anders. Dort singen die Kinder nicht mit der Kopf-, sondern mit ihrer Bruststimme frei heraus. Dadurch bildet sich Selbstbewusstsein, und die Singstimme klingt ähnlich wie die Sprechstimme. Dann fühlt man sich auch nicht mehr so schambehaftet, wenn man lossingt. 

Warum haben einige von uns eine laute und kräftige Stimme und andere eine leise, dünne? Und kann man das ändern? 

Tatsächlich ist das zum Teil anatomisch begründet. Manche Stimmbänder sind einfach dicker und robuster als andere. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich um einen Muskel handelt, den man genauso trainieren kann wie jeden anderen auch. Das heißt, jemand der piepst, kann auch eine kräftigere Stimme bekommen. Aber natürlich wird aus einer Verona Pooth nicht sofort eine Anastacia – da muss man realistisch bleiben. 

Wie bist du auf die Idee gekommen, einen Mental Health Chor zu gründen? 

Ich habe schon öfter Chöre geleitet und liebe diese Energie, die durch das gemeinsame Singen entsteht. Und was kann es für die mentale Gesundheit besseres geben, als gute Texte und gute Melodien mit guten Menschen zu zelebrieren? Das kann nur großartig sein! Es geht weder um Leistung noch um Konkurrenz oder Wettbewerb. Mir ist das Wichtigste, dass in meinem Chor niemand Stress oder Angst hat. Wenn nach der Probe alle ein Grinsen im Gesicht haben – dann habe ich meinen Job gut gemacht! 

Dein Buch heißt „Sei eine Stimme, nicht nur ein Echo“. Was meinst du damit? 

Um unsere eigene Stimme zu finden, müssen wir die Echos der Vergangenheit abstellen – Stimmen von Eltern oder Lehrern, die uns erzählt haben, was wir alles NICHT können. Stattdessen sollten wir anfangen, wieder unserem eigenen Soundtrack zu lauschen: Was ist meine Musik und was die von anderen? Und alle Songs, die nicht zu uns passen, sollten wir rigoros von unserer inneren Playlist löschen. 

Halleluja, amen!

Für-Sie-Redakteurin Michaela Puschmann traf Stimmcoach Gerrit Winter nicht nur zum Interview, sondern entdeckte dank ihm auch die Power ihrer eigenen Stimme.

© privat

6 Tipps für befreiendes Singen

Sie wollen auch Ihre Stimme entdecken und die befreiende Wirkung des Singens erleben? Hier kommen 6 hilfreiche Tipps.

1. Tschüss, Zitterstimme!

Ein Meeting oder ein wichtiges Gespräch steht an? Für eine ruhige und feste Stimme einfach sieben Sekunden durch die Nase einatmen, Atem genauso lange halten und wieder sieben Sekunden durch den Mund ausatmen. So oft wiederholen, bis man ruhiger wird. Der Fokus ist dabei komplett auf den sieben Sekunden. Und dann: Go for it!

2. Mund auf! 

Eine Übung, die sofort empowert: Stellen Sie sich vor den Spiegel und zählen Sie laut bis zehn. Und zwar mit weit geöffnetem Mund – Scham bei Seite! Als würden Sie in einen Apfel beißen: eiiins, zweiiii ... Nehmen Sie ganz bewusst wahr, wie kräftig Ihre Stimme jetzt klingt.

3. "Aber" aus dem Wortschatz verbannen

„Ich würde ja gern etwas sagen, aber ich traue mich nicht ...“ Kennen Sie dieses Gefühl in größeren Gesprächsrunden auch? Es lässt sich ganz einfach überlisten – denn unsere Stimme agiert immer nach dem Befehl, den wir ihr geben. Es ist ganz simpel: Erst kommt die innere Entscheidung („Ich sage jetzt etwas!“ statt „Ich würde gern, aber ...“), dann die richtige Atmung (tief in den Bauch) – und dann das gute Ergebnis. Hier kann es auch helfen, innerlich bis fünf zu zählen – bei vier einatmen, bei fünf: Let’s go!

4. I’m the Boss! 

So zeigen Sie Ihrer Stimme, wo’s langgeht: Sagen Sie „Ja, okay!“ in drei verschiedenen Lautstärkevarianten: 50 Prozent (normale Sprechlage), 10 Prozent (kurz vor dem Flüstern) und letztlich 100 Prozent (das Maximum an Lautstärke, ohne zu schreien). Na, sind Sie schon die Chefin Ihrer eigenen Stimme? Mit dieser Methode lässt es sich wunderbar üben.

5. Let's get loud

Schluss mit Piepsen! Auf die richtige Atemtechnik kommt’s an: Legen Sie sich auf den Rücken und platzieren Sie einen kleinen Bücherstapel auf Ihrem Bauch. Heben sich die Bücher bei der Einatmung? Glückwunsch, so soll’s sein! Diese tiefe Bauchatmung gibt unserer Stimme das nötige Volumen, um garantiert nicht mehr überhört zu werden.

6. Frosch im Hals? 

Hier lohnt sich tatsächlich ein Blick auf die Ernährung – denn viele Nahrungsmittel beeinflussen unsere Stimme: Kaffee und Teesorten wie Kamille und Pfefferminze trocknen die Schleimhäute aus, sehr kaliumhaltiges Wasser sorgt für einen Frosch im Hals, und Milchprodukte können häufiges Räuspern nach sich ziehen. Bei akuten Stimmproblemen schaffen Lutschpastillen aus der Apotheke Abhilfe.

Text und Interview: Michaela Puschmann