Interview mit Regisseurin und Autorin Doris Dörrie: "Jede Wohnung ist eine Metapher"

Die gefeierte Regisseurin, Produzentin und Autorin Doris Dörrie hat ein wunderbares Buch übers Wohnen geschrieben. 

Regisseurin, Produzentin, Autorin Doris Dörrie lächelt aufgeweckt in die Kamera. Sie trägt einen knallig pinken Pullover und eine Brille mit blau getönten Gläsern.

Regisseurin, Produzentin und Autorin im FÜR-SIE-Interview. 

© Foto: Tristar Media / Kontributor / Getty Images / Collage FürSie.de

Sie hat schon im Obdachlosenhotel gewohnt, sich zum Zeitvertreib Luxus-Immobilien in L.A. angeschaut und wegen eines eigenen Zimmers überhaupt erst mit dem Schreiben angefangen. Jetzt hat Doris Dörrie mit Wohnen ein Buch über ihr Leben in Räumen verfasst. 

Zum Interview treffen wir sie in ihrer Münchner Wohnung an. Wie es da aussieht? Können wir nicht sehen – wir telefonieren ganz oldschool. 

FÜR SIE: Welches Wohn-Erlebnis hat Sie geprägt? 

Mein erstes eigenes Zimmer, das ich als Schulkind bekommen habe. Darin habe ich mich oft geflüchtet und verschanzt. Das war eine tiefgreifende Erfahrung für mich: allein sein und lesen. Ich war natürlich nie ganz allein, weil ich die anderen gehört habe. Das ist auch mein Idealzustand: dass andere Menschen da sind, ich aber dabei für mich sein und lesen und schreiben kann. Ich weiß nicht, ob ich Autorin und Filmemacherin geworden wäre, wenn ich nicht so früh diesen Rückzugsraum, diesen „room of one’s own“ gehabt hätte, den viele Frauen heute übrigens zu Hause gar nicht haben. Ein prägender Ort war sicher auch das Obdachlosenhotel. 

Doris Dörrie

FÜR SIE: Wieso waren Sie da?

 Ich war als junge Frau in New York und dieses Obdachlosenhotel war das Einzige, was ich mir leisten konnte. In den Zimmern war es sehr dreckig, voller Ungeziefer – und gefährlich. Außer mir wohnten dort nur Männer. Einmal wurde jemand auf meinem Flur erstochen. 

Doris Dörrie

FÜR SIE: Waren Sie in dem Moment im Zimmer?

Ja, ich habe versucht, das zu verrammeln – schwierig, das war so eine Tür mit Drehknopf, die man mit einem Fußtritt aufkriegt. Das waren relativ beängstigende Umstände. Da habe ich gemerkt, dass ich diesen äußeren Raum, der mir keinen Schutz geboten hat, ersetzen kann durch einen inneren Raum – und das war das Schreiben. In dem Moment, als ich versucht habe, meine Situation zu beschreiben, hatte ich weniger Angst. Ich habe dann viel Zeit in einem nahegelegenen Diner verbracht, dort Menschen beobachtet und geschrieben.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Sie kritisieren, dass es kaum sichere öffentliche Räume für Frauen gibt. Abgesehen vielleicht von großen Kaufhäusern, wo es warm und hell ist. Aber: Wenn wir sichere öffentliche Räume nicht finden und uns immer mehr ins Private zurückziehen – was für Folgen hat das?

Auf jeden Fall weniger Sichtbarkeit und Teilhabe. Sie schreiben: Die Zahl häuslicher Gewaltdelikte ist 2024 auf mehr als 240.000 gestiegen.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Ist das Zuhause Rückzugsort und Risikofaktor für Frauen zugleich? Was wünschen Sie sich da?

Ganz ehrlich: Die Abschaffung des Patriarchats. Und einen anderen Umgang mit männlicher Gewalt.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Sie haben vor langer Zeit selbst Gewalt in einer Partnerschaft erlebt ...

... und ich konnte gehen, weil ich unabhängig war. Das ist mir beim Schreiben aufgefallen – welches Privileg es immer noch für Frauen ist, gehen zu können und wieder eine neue Wohnung zu finden.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Welchen Raum mögen Sie gar nicht?

Als junge Frau habe ich mich vor der Küche gefürchtet, ich wollte da auf keinen Fall so viel Zeit verbringen wie meine Mutter, die dort täglich rund fünf Stunden war. Ich wollte draußen sein, Filme machen und schreiben. Aber – ist das nützlich? Wenn ich ein Abendessen für die Familie koche, bin ich sofort nützlich. Dass diese Zweifel an der eigenen Rolle und Nützlichkeit auch mir noch so in den Knochen stecken, finde ich erstaunlich. 

Doris Dörrie

FÜR SIE: Aber Sie schreiben am Küchentisch.

Ich könnte also sofort aufspringen und mich nützlich machen! Nein, der Vorteil am Küchentisch ist, dass es den Druck rausnimmt. Man kann lässiger anfangen, weil es da nicht gleich der große Roman sein muss, den ich an meinem großartigen Schreibtisch, im großartigen Schreibzimmer anfange. Nun gut, ich habe bis heute gar keinen Schreibtisch ...

Doris Dörrie

FÜR SIE: Apropos Arbeit - beim Film erschaffen Sie künstliche Wohnwelten.

Jede Wohnung ist eine Metapher. Das Wohnen bestimmt uns. In einer Filmwohnung erzählt jedes Detail, egal ob Chaos, Farben oder ein Möbelstück, etwas über die Figur. Es ist erstaunlich, wie sehr wir als Zuschauer gewöhnt sind, die Umgebung zu scannen und Infos zu sammeln.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Was verrät Ihre Wohnung über Sie?

Viel über Formen von Kreativität, fertige und unfertige Projekte. Und ich liebe Souvenirs, die für mich eine Bedeutung haben, wie etwa ein Teppichklopfer, der in seiner geschwungenen Form das Symbol für Unendlichkeit widerspiegelt. Als Studentin haben Sie auf einer Matratze auf dem Boden geschlafen.

Doris Dörrie

FÜR SIE: War das Wohnen da ein politisches Statement?

Wir haben so gelebt, weil wir alles, was etabliert war, abgelehnt haben. Deswegen haben wir auch Türen ausgehängt: Wir wollten keine Privatsphäre, weil sie Eigentum und Besitzansprüche manifestiert.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Im starken Gegensatz dazu stehen die Luxusimmobilien, die Sie in L. A. besichtigt haben. Wie kam es dazu?

Aus Langeweile. Damals hatte ich im Hotel „Chateau Marmont“ gewohnt, das von seiner Legende mit illustren Gästen lebte, drumherum gab es aber nichts Spannendes. Da bin ich an den Wochenenden zu diesen Open-House-Besichtigungen der Reichen und Schönen gefahren.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Haben Sie jemals Wohnneid verspürt?

Nein. Es waren überdimensionierte Häuser mit wenig Leben, stereotyp designt.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Und wie sieht Ihr Traumhaus aus?

Ich habe kein Konzept von einem Traumhaus. Mein Idealzustand ist der, unterwegs zu sein und immer wieder Orte zu finden, an denen ich gern bin.

Doris Dörrie

FÜR SIE: Dazu hat auch Ihr Elternhaus gehört, das Sie ausräumen mussten ...

Es ist mir sehr schwer gefallen, die leere Wohnung zu verlassen. Es ist ein Abschied von dem Ort, an den man immer zurückkehren konnte. Zum Glück geht das.

Doris Dörrie

Dieses Interview wurde von Sörre Wieck geführt und ist ursprünglich in FÜR SIE 11/2025 erschienen.