
Wenn Kinder ausziehen
Am Ende ging alles ganz schnell. Beide Kinder hatten ein WG-Zimmer gefunden, packten ihre Sachen, staubten noch eine gute Pfanne ab, hinterließen ein paar zerrissene Poster – und waren weg. „Sozusagen von hundert auf null“, erinnert sich die Hamburger Lehrerin Anika Mertens. „Keine viel zu laute Musik und keine klitschnassen Handtücher auf dem Badezimmerboden, aber auch kein Gelächter aus dem Partykeller mehr.“ In kurzem Abstand zogen die jüngere Tochter mit 21 Jahren und der ältere Sohn mit 23 Jahren aus dem elterlichen Reihenhaus aus – und entsprachen damit genau der Statistik. Zwischen 21 und 24 Jahren verlassen die meisten Kinder das Elternhaus, junge Frauen wagen den Sprung im Schnitt eher als Männer.
Der Übergang schmerzt
Für Kinder ist der Abschied vom Kinderzimmer ein großer und meist beglückender Schritt in die Selbstständigkeit. Für die Eltern bedeutet der Auszug das Ende eines bedeutsamen Lebensabschnitts. Wenn die Kinder gehen, ist die wichtigste Phase ihrer Elternschaft abgeschlossen, das letzte Lebensdrittel beginnt. Dieser Übergang kann sehr schmerzlich sein. Die Schweizer Psychotherapeutin Verena Kast sagt: „Es ist normal, dass Kinder ihre Eltern verlassen, aber auch wenn es normal ist, heißt das nicht, dass es nicht wehtun darf.“ Auch die Literaturwissenschaftlerin Doris Altus, die heute in Zürich lebt, fand es völlig richtig, dass ihr Sohn mit 22 Jahren endgültig auszog. Trotzdem durchlebte sie eine gefühlsmäßige Achterbahnfahrt: „Ich war so traurig und so glücklich wie schon lange nicht mehr. Und das alles an einem Tag“, beschreibt sie ihre Gefühle in ihrem Buch über diesen Abschied. Als die Möbel ausgeräumt sind, der Sohn in der neuen Wohnung ist, die die Mutter noch nie gesehen hat, putzt und fegt sie das ehemalige Kinderzimmer. So bald wie möglich soll aus dem leeren Raum ein von vielen Freunden benutztes Gästezimmer werden. Als sie fertig ist, rollen dann aber doch die Tränen übers Gesicht.
„Jeder Prozess der Ablösung wirft uns auf uns selbst zurück: Wir sind allein, wir bleiben zurück, sind verlassen worden, vielleicht sogar einsam“, sagt die Psychotherapeutin Kast. Egal, wie sehr man sich manchmal über dahingeworfene Wäsche oder laute Musik geärgert hat: Wenn die Kinder gehen, wird das Leben unwiederbringlich nie mehr sein, wie es einmal war.
Man braucht eine neue Rolle
Ausgelöst durch den Auszug, stehen verschiedene, mitunter schmerzliche und anstrengende Klärungen an: die neue Identität als Frau, wenn die Mutterrolle endgültig ausgespielt ist, die Fragen des Alterns und was im letzten Lebensdrittel wichtig sein kann und soll. Auch die Beziehung zum Partner gerät aus dem langjährigen Gleichgewicht: Was bindet uns ohne die gemeinsame Aufgabe? Werden wir uns stärker annähern oder driften wir auseinander?
Wenn Frauen mit Mitte 50 niedergeschlagen und deprimiert sind, machen viele die Wechseljahre dafür verantwortlich. „Eine klimakterische Depression ist eine beliebte, aber fragwürdige Diagnose“, kritisiert die Psychotherapeutin Verena Kast. Denn die Niedergeschlagenheit kann nicht nur durch die hormonelle Umstellung verursacht sein, sondern mindestens ebenso durch Anpassungsschwierigkeiten an die neue Lebenssituation – man leidet unter einer Art „Empty-Nest-Syndrom“.
„Neues macht immer Angst. Das war ja auch schon so, als das Baby zur Welt kam. Neben der großen Freude gab es damals viele Zweifel“, meint Binkert. Wenn das Kind in die Welt hinausgeht, ist die Gefühlswelt ähnlich extrem. „Zeiten des Übergangs sind nun mal Zeiten der Verunsicherung und der Verletzlichkeit. Zeiten, in denen wir uns häuten müssen.“ Es dauerte etwa ein Jahr, bis die Literaturwissenschaftlerin den neuen Zustand als normal empfand. Ihr haben in der ersten Phase kleine Verwöhnprogramme geholfen: Massagen, Abende mit Freundinnen, Kino- und Museumsbesuche. All das gab ihr den nötigen Halt, um mit der neuen Situation umzugehen. Binkert: „Es ist ganz wichtig, dass man in dieser Zeit eigene Projekte hat und sich gut um sich selbst kümmert.“ Durch diesen gesunden Egoismus gibt man seinen Kindern auch die innerliche Erlaubnis, ihr eigenes Glück zu suchen – ohne Sorge, die Eltern im Stich zu lassen.
Die Psychotherapeutin Verena Kast rät außerdem, den Ablösungsprozess bewusst zu durchleben. Sie vergleicht den Vorgang mit der Trauer um einen verstorbenen Menschen: „Obwohl unsere Kinder in der Regel weiter mit uns in Kontakt stehen, ist ein ernsthafter Trauerprozess zu empfehlen. Denn die Beziehung zu unseren Kindern wird eine radikal andere sein, wenn sie erst einmal ausgezogen sind. Nur wenn die Ablösung wirklich vollzogen – und das bedeutet betrauert – worden ist, können wir in den Kindern erwachsene Menschen sehen, mit denen wir eine neue Beziehung beginnen.“
Auf die Trauer folgt Wut
Ein Trauerprozess hat mehrere Phasen. Zu Beginn gibt es oft ein Nicht-wahrhaben-Wollen, man tröstet sich mit Gedanken wie „Sie sind doch ständig bei uns, eigentlich hat sich kaum etwas verändert“. Auch Groll ist normal, gern richtet sich dieser gegen den Partner des Kindes. „Man hält die Wut nicht aus, dass diese Kinder, für die man so viel getan hat, einfach weggehen und dass ein anderer Mensch so viel wichtiger wird in ihrem Leben. Wir befreien uns von dieser Wut, indem wir etwas Negatives finden an der neuen Bezugsperson“, sagt Kast. Irgendwann ebben die Trauer und der Groll ab, die neue Situation ist nicht mehr so ungewohnt und unbequem, vielleicht sogar ganz angenehm. Man erkennt jetzt auch ihre guten Seiten.
- Dörthe Binkert: „Den Schlüssel kannst du ja behalten“, Gütersloher Verlagshaus, 14,95 Euro. Eine gelungene Mischung aus Ratgeber und autobiografischer Erzählung.
- Verena Kast: „Loslassen und sich selber finden. Die Ablösung von den Kindern“, Herder Verlag, 7 Euro. Die Psychotherapeutin erklärt, warum der Ablösungsprozess für Eltern und Kinder so wichtig ist.
- Howard M. Halpern: „Festhalten oder Loslassen. Wie Eltern die Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern gestalten können“, iskopress, 19,90 Euro. Das Buch des amerikanischen Psychotherapeuten bietet Eltern Anregung, die Rolle zu ihren erwachsenen Kindern zu überdenken und neu zu definieren.
Dennoch: „Niemals geht man so ganz“ heißt ein wunderbares Chanson der Kölner Sängerin Trude Herr. Auf wahrscheinlich keine andere Beziehung trifft dieser Satz so sehr zu wie auf die von Eltern und ihren Kindern. Denn auch wenn sich die Wogen nach einiger Zeit glätten – statisch wird die Beziehung nie. Das Ringen um die richtige Mischung aus Nähe und Distanz hält meist ein ganzes Leben lang an und fordert Eltern und Kinder heraus, die andere Seite immer wieder neu zu betrachten. Wenn beide dazu bereit sind, kann eine intensive Beziehung daraus erwachsen. Der Auszug bedeutet dann nicht nur ein Ende, sondern ist auch der Anfang von etwas Neuem.
Das empfindet Margot Hiller ähnlich. „Nach Zeiten der Funkstille fahre ich heute mit meinen Kindern und deren Familien jedes Jahr eine Woche auf die Nordseeinsel, auf die wir schon gefahren sind, als sie noch klein waren. Aber im Unterschied zu damals sind es heute meine Kinder, die die Fahrkarten in der Handtasche haben.“
