Neuer Trend: kreativ sein!

Neuer Trend: kreativ sein!

Überall wird jetzt gehäkelt und genäht. Selbst Street-Art-Künstler schlagen weich und wollig zu. Was fasziniert alle so am Selbstgestrickten?

Baumkleid© jalag-syndication.de
Neuer Trend: kreativ sein!

Ein Freund von mir arbeitet seit Jahren in einem ziemlich ramschigen Buchladen – und hat es zu einer schönen Tradition gemacht, zu Partys und Geburtstagen stets das unnützeste, bizarrste Fundstück aus dem Laden mitzubringen, um die Gastgeber damit zu verstören. Vor etwa sechs Jahren schenkte er mir einen zentnerschweren Wälzer im lila Einband, der damals für große Erheiterung sorgte: Die „Encyclopädie der weiblichen Handarbeiten“.

Eisenkette in Strick© jalag-syndication.de
Kunstwerke auf der Straße:
Werke der international agierenden Gruppe Masquerade in Stockholm

Wir hätten beide nicht zu träumen gewagt, dass man heute mit diesem Wälzer ganz ironiefrei stürmische Begeisterung auslösen würde. Nicht nur hierzulande, international nimmt eine neue Lust am Selbermachen verblüffende Formen an. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit „gestrickten Graffiti“ in Stockholm: An einer Skulptur in der City leuchteten fröhlich geringelte Pulswärmer. „Urban Knitting“ heißt dieser Street-Art-Trend, der inzwischen von Helsinki bis New York, von Tel Aviv bis Berlin Bäume und Objekte wie Sitzbänke, Poller oder Straßenlaternen schmückt. Er macht gute Laune und hat vermutlich auch dazu beigetragen, dass die guten alten Handarbeitstechniken wieder extrem angesagt sind.

Mensch in Gulli© jalag-syndication.de
Handarbeiten:

In Berlin, Hamburg, München eröffnen Nähcafés, Strickzirkel tauschen sich aus, Häkelstammtische formieren sich. Tania Gehrmann, 39, vom Berliner Stoffladen „Frau Tulpe“ schätzt, dass in den letzten drei Jahren allein in Berlin etwa zehn neue Läden aufgemacht haben, die Stoffe verkaufen und/oder Nähkurse anbieten. Museen präsentieren Ausstellungen mit textilen Handarbeiten, etwa das Modemuseum Antwerpen*. Und wir lernen in überfüllten VHS-Kursen begeistert (wieder), was wir früher als Grundschulkind in „Handarbeit/Werken“ manchmal gar nicht so prickelnd fanden. Wer zwei linke Hände oder keine Zeit hat, für den bieten mittlerweile ungezählte kleine Labels, Manufakturen und Designer liebevoll handgemachte Produkte auf speziellen Internetplattformen zum Kauf an.

 

Lust auf etwas Einmaliges

Lust auf etwas Einmaliges

Love aus Strick© jalag-syndication.de
Kunstwerk:

Etsy zum Beispiel startete 2005 in Brooklyn, mittlerweile sind dort mehr als 400 000 Anbieter mit ihren Produkten online. Die deutsche Plattform Da-Wanda (seit 2006) konnte allein im letzten Jahr die Zahl der Verkäufer fast verdoppeln, von 50 000 auf heute 95 000. In den „Etsy Labs“ in Berlin findet jeden Montag eine kostenlose „Craft Night“ statt: Siebdrucken, Voodoo-Puppen basteln, Porzellan bemalen standen zuletzt auf dem Programm. Und heute Abend: japanische Zori-Sandalen aus den Stoffresten alter T-Shirts knüpfen. Etwa 30 Leute sitzen hochkonzentriert, strumpfsockig und ein bisschen verzweifelt auf dem Boden, eine Nylonschnur in der Hand, T-Shirt-Würste neben sich, und versuchen, Zori-Lehrer Petes Anweisungen zu folgen. Bei mir entsteht nur Schnursalat. Zum Glück gibt es meine Nachbarin Suse, die geduldig meine Finger hin und her biegt. Suse entwirft selbst Kindermode und sagt, dass sie „Upcycling“, also aus alten Sachen neue machen, toll findet. Und so langsam entsteht auch aus meinen Stoffwürsten ein pantoffelförmiges Gebilde.

Strickball© jalag-syndication.de
Ball selber nähen:

Was treibt die Selbermacher an? „Die Leute haben immer weniger Lust auf industriell gefertigte Massenware, die keine Geschichte und keinen Charakter hat“, sagt Marie Zeisler von Etsy. „Du stellst was mit den eigenen Händen her und hast danach etwas in der Hand, das ist sehr befriedigend. Je mehr die Welt sich technisiert, desto stärker sehnen sich die Menschen nach Selbstgemachtem.“ Statt der ewig gleichen Teile der ewig gleichen Modelabel also ein Statement zur Individualität, zum Einmaligen und Unverwechselbaren. Kein Wunder: In Zeiten, da wir täglich acht Stunden vorm Computer sitzen und unsere Arbeit nur noch virtuell ist, steigt die Lust auf das Echte, Wahre.

 

Selbermachen als Nostalgie-Trip

Selbermachen als Nostalgie-Trip

Strickkunst in New York© jalag-syndication.de
Kunstwerk in New York:
Ein Kunstwerk von Unbekannten in New York.

Durch das Selbermachen wie früher kann man auch ein bisschen flüchten vor der harten, globalisierten Welt da draußen – unsichere Jobs, unsichere Beziehungen, nichts bleibt, wie es war. Vielleicht tut es da ganz einfach gut, sich in eine selbst gestrickte Wolldecke zu kuscheln und selbst gemachte Brombeermarmelade zu essen – ein schöner kleiner Nostalgie-Trip. Jedenfalls wollen immer mehr Leute wissen, wie’s geht. Tania Gehrmann hat 2004 in Berlin ihren Stoffladen „Frau Tulpe“ eröffnet, ihre Nähkurse sind seit einiger Zeit proppenvoll, und vor Kurzem hat sie einen zweiten Laden in Hamburg aufgemacht. Imke, 29, lässt sich gerade von Tania 1,20 Meter grünen Cordstoff abschneiden. Sie näht an einer Patchwork-Krabbeldecke. „In meinem Freundeskreis ist ein Babyboom ausgebrochen – ich schenke jeder Freundin zur Geburt eine selbst gemachte Decke“, erzählt sie. Imke hat das Nähen von ihrer Mutter gelernt. „Sie kann sogar Mäntel schneidern. Darum beneide ich sie sehr.“

Stoff zuschneiden© jalag-syndication.de
Tania Gehrmann:
Tania Gehrmann schneidet im Stoffladen „Frau Tulpe“ den Stoff zu

Ich suche einen süßen Stoff mit Retro-Märchenmotiven aus. „Diese Stoffe sind unglaublich hip zurzeit“, sagt Tania Gehrmann. Das passt zur Nostalgie-Theorie: Selbermacher treibt auch die Sehnsucht nach ein bisschen heiler Welt. Mit dem Stoff geht es ins „Linkle Stitch ’n Bitch Nähcafé“ der Niederländerin Linda Eilers, 33. Zwischen Stoffbergen, Stecknadelknäueln, Garnpyramiden und Wolle surren um die zehn Nähmaschinen, einige davon Oldtimer aus DDR-Zeiten. Nähbegeisterte können jederzeit vorbeikommen, einen Kaffee trinken und zahlen fünf Euro pro Stunde für die Maschinennutzung. „Als ich 2006 aufmachte, kamen vor allem ältere Damen“, sagt Linda. Heute kommen vor allem junge Frauen zwischen 25 und 35, und die Älteren sind auch noch dabei. Heide Besuch, 60, näht Gardinen, eine junge Frau schneidet weißen Stoff für ein Kostüm, dessen Vorlage sie einem japanischem Manga entnommen hat. Heides Söhne, 29 und 31, kommen regelmäßig, um ihre Kostüme zu nähen, beide arbeiten als Pantomime.

Nähen im Nähcafé© jalag-syndication.de
Lisa Seelig:
Autorin Lisa Seelig saß im Berliner „Linkle Stitch ’n Bitch Nähcafé“ zum ersten Mal an einer Nähmaschine

Unter Lindas Anleitung soll mein „Projekt“ entstehen – eine Kissenhülle. Ich saß noch nie an einer Nähmaschine, Linda erklärt geduldig, und es fühlt sich an wie das erste Mal Fahrradfahren ohne Stützräder, als wenig später die Nähmaschine losrattert. Anfangs muss ich etwas Panik unterdrücken. Aber nach einer halben Stunde ist der Kissenbezug fertig! Zugegeben, nur die abgespeckte Variante, ohne Reißverschluss, aber es muss ja auch nicht gleich der Mount Everest sein am ersten Tag. Am Abend lege ich das Kissen demonstrativ aufs Sofa. Mein Mann schaut ein bisschen befremdet, aber bevor er etwas sagen kann, sage ich stolz: „Hab ich selbst gemacht.“ Das nimmt ihm sämtlichen Wind aus den Segeln. Auch das ist so toll am Selbermachen: Egal wie unperfekt oder schief etwas ist, es ist etwas Besonderes. Die „Encyclopädie der weiblichen Handarbeiten“ werde ich demnächst zwischen den Coffeetable-Books im Wohnzimmer platzieren. Und die Denkmäler in der Stadt seh ich auch schon mit ganz anderen Augen...

 

Nützliche Tipps und Infos

IM INTERNET:

Mehr über Urban Knitting:

Mehr Tipps zum Selbermachen:

Internetshops für Handgemachtes:

Tipps zum Weiterlesen

  • Simone Werle: „Urban Knits. The world’s most inoffensive Graffiti“. Der Bildband kommt am 25. April im Prestel Verlag heraus (96 Seiten, 14,95 Euro). Sogenannte Knitting Crews fotografieren ihre im öffentlichen Raum platzierten Strick- und Häkelkunst werke und verbreiten sie im Internet wie andere gesprayte Graffiti oder Installationen. Ihre Motivation ist selten reiner Protest, eher – mit einer Spur augenzwinkernder Anarchie – der Wunsch, etwas mehr Wärme und Farbe im grauen Cityalltag und individuelle Spuren zu hinterlassen. Werle zeigt Highlights der weichen Welle; die Street-Art-Fotos zu unserem Report sind dem Buch entnommen.
  • Susanne Klingner: „Hab ich selbst gemacht. 365 Tage, 2 Hände, 66 Projekte“. Die Autorin stellt von Käse bis Seife ihre Selbstversuche vor. Das Taschenbuch ist ab 19. Mai erhältlich (Kiepenheuer&Witsch, 256 Seiten, 8,95 Euro).
  • „Cut“. Seit 2009 erscheint dieses Magazin mit dem Untertitel „Kleider machen Leute“ (9,50 Euro). Die Macherinnen, drei Frauen aus München, berichten über Do-it-yourself in allen Bereichen. Ihr spezielles Interesse gilt dabei der Mode. Einfache Schnitte werden Schritt für Schritt erklärt, Designer und neue Läden vorgestellt. Und es gibt in jeder Ausgabe herausnehmbare Schnittmuster. www.cut-magazine.com
Gestrickte Taschen© jalag-syndication.de
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