
Nur noch für 50 Prozent der Singles ist absolute Treue in einer Partnerschaft zwingend, so das Ergebnis einer Befragung der Partneragentur Parship. Ist Monogamie ein Auslaufmodell?
Nein, was sich ändert, ist die Beurteilung: Wer heute untreu ist, wird moralisch nicht mehr so radikal niedergemacht wie früher.
Ulrich Clement, 58, Professor für medizinische Psychologie in Heidelberg, gründete mit Dr. Ulrike Brandenburg das Institut für Sexualtherapie. Der Paarund Sexualtherapeut veröffentlichte gerade das Buch „Wenn Liebe fremdgeht“ (Marion von Schröder Verlag, 16,90 Euro), in dem er „Vom richtigen Umgang mit Affären“ schreibt. Er ist seit fast 20 Jahren verheiratet und hat drei Kinder.
Weil die Menschen Treue gar nicht mehr so wichtig finden?
Die einen mehr, die anderen weniger. Wir leben in einer postmodernen Zeit, in der es keine Norm und Moral für alle gibt. Traditionelle Paare sehen Treue nach wie vor als unentbehrliches Gut ...
... und weniger traditionelle Paare sagen einander: Geh ruhig fremd, das macht mir überhaupt nichts aus?
Nein, gleichgültig ist es niemandem, wenn der Partner fremdgeht. Aber manche Paare leben einfach besser mit einem flexibleren Modell von Treue. Für sie wäre die Monogamie eine Falle, weil sie sich zu sehr reduzieren müssten. Denn was wir in einer Partnerschaft hinbekommen müssen, sind zwei Dinge: einerseits Verlässlichkeit und Vertrauen andererseits Lebendigkeit und Aufregung. Letzteres geht nicht immer mit demselben Partner. Deshalb wäre Monogamie für manche Paare eine Falle.
Das klingt aber sehr nach einem Plädoyer für Untreue.
Nur für die Möglichkeit der Untreue. Würde ich jetzt sagen, werft alle die Treue über Bord, damit geht es euch besser, wäre das genauso falsch, als wenn ich sagen würde, nur die Treue zählt. Man kann einfach nicht mehr so pauschal urteilen. Aber ich weiß, dass man mit Treue genauso wie mit Untreue leben kann. Beides ist alltagstauglich. Jedes Paar muss für sich entscheiden, wie großzügig es damit umgeht.
Wie betrügt man fair? Etwa indem man dem Partner davon erzählt?
Nein. Schweigen ist die lebensfähigste Form, mit Untreue umzugehen. Das kann ich aus den Erfahrungen mit den vielen Paaren in meiner Praxis so sagen. Gleichzeitig darf man den anderen nicht zu stark kontrollieren. Man bleibt einander verbunden, ist loyal, hat gemeinsame Lebenspläne – und erlaubt sich in respektvoller Toleranz, auch mal eine dritte Person interessant zu finden.
Wo beginnt Untreue überhaupt?
Wo beginnt Untreue überhaupt?
Diese Frage ist oft ein Streitpunkt unter Paaren. Eine Frau empfand es beispielsweise schon als Betrug, dass ihr Mann sich im Internet nackte Frauen anschaute. Weil er mit den Gedanken nicht bei ihr sei. Er fand das völlig unverständlich, schließlich spiele sich alles nur in seiner Fantasie ab. Auch hier gilt: Wo die Grenze zwischen Treue und Untreue liegt, muss jedes Paar im Alltag miteinander aushandeln.
Empfindet man Untreue als weniger schlimm, wenn sie mehrmals passiert?
Nein, so eine Hornhaut gibt es nicht, an Untreue kann sich niemand gewöhnen. Aber es gibt doch auch Paare, die zum Beispiel gern in Swinger-Clubs gehen. Schon, aber die empfinden den Sex mit einem anderen Partner nicht als Untreue. Dieser Sex ist zwischen ihnen abgesprochen, daher kein Betrug.
Also ist uns Monogamie nicht von Natur aus gegeben?
Angeboren ist nur die Eifersucht. Um die zu bekämpfen, haben wir die Monogamie erfunden. Sie ist eine Kulturleistung, die wir uns im Laufe der Menschheitsgeschichte angeeignet haben.
Dann ist Treue ein Zeitgeistphänomen?
Zeitgeist ist zu kurz gefasst, denn als Wert in der Partnerschaft ist die Treue schon ein paar Jahrhunderte alt. Neuer ist allerdings, dass sie gegenseitig erwartet wird. Historisch betrachtet war Untreue nämlich ein gesellschaftliches Privileg: Nur wer es sich leisten konnte, durfte untreu werden. Und das waren die einflussreichen, mächtigen Männer.
So gesehen ist es ein Zeichen von Emanzipation, dass heute Frauen fremdgehen.
Ja, man kann es als eine Form von Befreiung und zunehmender Selbstbestimmung sehen. Aus Studien weiß man beispielsweise, dass Frauen, die finanziell unabhängig sind, es sich eher leisten fremdzugehen, als solche in traditionellen Versorger-Ehen.
Sind es dennoch überwiegend Männer, die es mit der Treue nicht so eng sehen?
Die meisten Statistiken zeigen diese Tendenz. Aber die Rechnung kann nicht aufgehen, weil es für eine Affäre in der Regel ja auch eine Frau braucht. Die Männer könnten sich doch ausschließlich an Single-Frauen halten. Trotzdem, ich denke, es liegt eher am Phänomen des Over- und Underreporting, wenn laut Umfragen Männer häufiger Affären haben.
Was bedeutet das denn?
Männer neigen dazu, etwas zu übertreiben, wenn man sie nach Seitensprüngen befragt. Weil sie unbewusst immer das Beuteprinzip im Kopf haben. Frauen stapeln dagegen eher tief und verschweigen zum Beispiel einen One-Night-Stand mit einem anderen lieber.

Stimmt das Klischee, dass bei Frauen immer Gefühl im Spiel ist, während bei Männern vor allem der Sex zählt?
Es gibt darin kaum noch einen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Heute beginnen auch Frauen eine Affäre, um ihre sexuellen Wünsche auszuleben, oder Männer gehen fremd, weil sie sich verlieben.
Lohnt sich Fremdgehen? Überwiegt der Schmerz nicht den kurzen Spaß?
Was alle Fremdgeher eint, ist, dass sie Lebendigkeit suchen. Und Sex ist eine sehr gute Möglichkeit, Lebendigkeit zu spüren. Vor allem wenn eine Affäre länger dauert, richtet sich der Fremdgeher eine Art „secret garden“ ein, der abgegrenzt ist vom normalen Leben. So eine Auszeit vom Alltag fasziniert gerade Menschen, die durch Job und Familie stark vereinnahmt werden. Dass sie dabei untreu werden, ist sozusagen ein ungewollter Nebeneffekt.
Das heißt, dass Fremdgehern in ihrer eigentlichen Beziehung etwas fehlt?
Das ist die einfachste Erklärung, der typische Fall. Aber es gibt auch andere Motive, etwa Gelegenheiten. Da zündet Frau plötzlich ein Dritter diesen Funken und weckt etwas, von dem man nicht mal wusste, dass man es in der ursprünglichen Beziehung vermisste. Das muss nicht sexueller Natur sein. Manchmal ist es auch die Art, wie man gesehen wird oder sich verstanden fühlt.
Also hat der Betrogene keine Schuld, wenn der andere fremdgeht?
Nein, eine Affäre ist nicht unbedingt ein Anzeichen dafür, dass in der ursprünglichen Beziehung etwas nicht stimmt. Man kann nie alle Wünsche seines Partners hundertprozentig erfüllen, nie alle Sehnsüchte ahnen, die der andere möglicherweise hat. Deshalb sollte man Untreue nicht nur persönlich nehmen.
Wie soll man das denn schaffen, ist das nicht übermenschlich?
Natürlich ist man verletzt. Ich empfehle nur, dass der Betrogene sich nicht selbstquälerisch den Kopf zermartern soll, was er falsch gemacht hat. Wer fremdgeht, lässt sich verführen und geht seinen Wünschen nach. Und das muss mit dem Betrogenen und seiner Form zu lieben erst mal nichts zu tun haben.
Hat Untreue auch eine positive Seite?
Ja, wenn man Untreue als Möglichkeit nutzt, um zu bilanzieren, wo man als Paar steht. Für jeden Betrogenen stellt sich heraus, dass der fremdgehende Partner eine Seite hat, die man nicht kennt. Sich diese genauer anzuschauen, sobald die Wunden verheilt sind, das ist die hohe Kunst. Wenn die Untreue also der Beginn einer Auseinandersetzung und nicht das Ende ist, dann kann etwas Gutes daraus werden.
Das funktioniert wirklich?
Ich habe nicht wenige Paare erlebt, die im Nachhinein sagten, die Untreue war ein Aufwecker: Wir waren ein gutes Team, haben aber die Mann-Frau-Ebene vernachlässigt. Es ist passiert, lass uns etwas daraus machen. Das soll kein Freifahrtschein für Kränkungen sein, sondern den Blick öffnen für die Tatsache: Es gibt ein Leben nach der Affäre!
