
Müllerin Annelie Wagenstaller
Als Teenager hat Annelie Wagenstaller mal kurz mit der Idee geliebäugelt, Konditorin zu werden. „Meinen Mann habe ich mit Schwarzwälder Kirschtorte geködert“, erzählt sie und lacht. Heute betreibt die 45-Jahrige, die etwas vergnügt Zupackendes ausstrahlt, eine der rund 250 kleinen Mühlen, die es hierzulande noch gibt. Als sie mit 21 Jahren die Meisterprüfung ablegte, war sie die jüngste Müllerin Deutschlands. „Ich wusste immer, dass ich das kann“, erzählt sie. „Mit diesem Material umzugehen, das liegt meiner Familie in den Genen.“ Die Wagenstallers sind immerhin seit 1765 durchgehend im Müllergewerbe. Idyllisch eingebettet in die Hügel des Voralpenlandes, zwischen Chiemsee und Simssee, liegt das stuckverzierte Mühlhaus am Rand der kleinen Gemeinde Riedering. Hier lebt und arbeitet der Clan seit 1927. Im vorderen Teil ist das Wohnhaus, hinten die Mühle und der Laden, den Annelie Wagenstaller mit ihrer Mutter aufgebaut hat. „Mein Vater hat mir die Mühle erklärt“, sagt sie. Jetzt lernt Markus, 17, der jüngste ihrer drei Söhne, bei ihr. „Wir beliefern keine 20 Bäcker mehr“, erzählt sie, „es geht bei uns nicht darum, große Mengen Mehl herzustellen, sondern Vielfalt zu bieten.“ Das sind Dinkel-, Roggen-, Weizenmehl, fein gemahlen für Kuchen; dunklere Sorten für deftiges Brot; außerdem Schrot, Gries und der sogenannte Dunst, ein körniges Mehl, aus dem vorzugsweise Spätzle, luftige Biskuitteige und Pasta gemacht werden – sie ist mit allem vertraut, was die Müllerkunst zu bieten hat. Als Annelie Wagenstaller die Mühle übernahm, war sie 22. Ihr Vater war mit gerade mal 52 Jahren gestorben, und sie erwartete ihr erstes Kind. Ihre Mutter, heue 71, bekam nur eine winzige Witwenrente, die Schwestern gingen noch zur Schule. „Meine Mutter war die treibende Kraft.“ Die Frauen entschieden: „Wir packen das, wir behalten die Mühle."
Von Mehl zu Müsli
Von Mehl zu Müsli
Doch um großen Konkurrenten standzuhalten, war die Mühle zu klein. Die Wagenstallers mussten einen anderen Weg gehen, um ihr Traditionsunternehmen zu halten. „Wir waren die Pioniere der Branche, als wir in den Naturkosthandel einstiegen und einen Laden aufmachten“, erzählt Annelie: Ende der 80er verkauften die Wagenstallers als Erste in Südbayern Müsli, heute Inbegriff des gesunden Frühstücks. Zu der Zeit begann Annelie auch, sich mit der Ernährungslehre der mittelalterlichen Äbtissin Hildegard von Bingen zu befassen, deren Dinkelrezepte berühmt sind. „Das Gute am Dinkel ist: Er säuert nicht, was den Körper entlastet“, erklärt sie. Auch Allergieberatungen gehören zu ihrem Angebot. „Bei der Getreidezüchtung wird auf den Ertrag geachtet und nicht darauf, ob das Korn allergenarm ist“, so die Müllerin. Annelie Wagenstallers Rohstoff von den Feldern wird im Lastwagen geliefert und per Druckluft direkt in ihre Speicher geblasen. Mit klapperndem Mühlrad hat der Beruf längst nichts mehr zu tun. Wie das mal war, kann man in einem historische Mühlennachbau aus Wackersteinen sehen, der abseits vom Haus am Bach steht: Den hat Annelies Mann Franz gebaut, der auf dem Familiengrundstück seine Zimmerei betreibt und außerdem Restaurator für Baudenkmäler ist. Sohn Markus öffnet das Wehr der Historien-Mühle, das Wasser schießt in die Schaufeln des Rads, und knarzend kommt es in Schwung. Drinnen beginnen zwei raue Steine, groß wie Lastwagenreifen, gegeneinander zu reiben. „So wurde früher das Korn zwischen den Mühlsteinen zerkleinert“, übertönt Annelie Wagenstaller den Lärm. „Der Keimling kam dabei mit ins Mehl“, erzählt sie, „deshalb wurde es schnell ranzig. Denn in dem Teil vom Korn steckt ein hoher Fettanteil.“
Wenn grober Schrot auf feinste Gaze trifft
Auch heute noch ist Mehl ein erstaunlich empfindliches Lebensmittel. Damit es frisch bleibt, rät sie, es kühl und trocken zu lagern – oder einzufrieren. Und dafür, dass es gar nicht erst ranzig werden kann, sorgt ihre Verarbeitung: Im Erdgeschoss der modernen Mühle stehen die sogenannten Walzenstühle, in deren zwei Edelstahlwalzen winzige Messer eingelassen sind. Damit wird jedes Korn in drei Teile geschrotet: Schale, Keimling und Mehlkörper. Das Schrot wird durch Rohre in den oberen Stock gesaugt und kommt auf den Plansichter, eine Siebmaschine: 13 Siebkästen, übereinander gestapelt und unterschiedlich bespannt, sortieren das Mehl nach Feinheitsgrad: Es gibt Drahtgewebe für grobe Sorten und Gaze-Siebe für helle, pudrige Sorten. Extrafeines Mahlgut wird bis zu zwölfmal gesiebt. „Wichtig ist, die Kleie herauszuschütteln.“ Denn die enthält fetthaltige Keimlinge.
Jeder Mehlsack wird von Hand gefüllt
Danach wirbelt das Mehl durch hölzerne Rohre auf die sogenannte Absackbank. Dort befüllen Annelie Wagenstaller und ihr Sohn von Hand Säcke mit bis zu 25 Kilo Gewicht und steppen jeden mit einer alten Nähmaschine zu. „An manchen Tagen packen wir 200 2,5-Kilo-Säcke ab“, erzählt sie, „mit der Rekordarbeit könnten wir uns bei ,Wetten dass ...‘ anmelden.“ Längst ist ihr Laden das Herzstück der Mühle geworden. Hier findet man neben Naturkost, Dinkelkissen und duftenden Seifen Säcke mit frischem Mehl. Einmal im Monat bietet sie auch Brotbackkurse an, eine Investition in die Zukunft der Branche: „Wenn die Menschen aufhören, daheim zu backen, brauchen sie bald kein Mehl mehr“, sagt sie. Ihre beiden Backbücher bieten eine Fülle an Rezepten. Dass sie ihre Konditor- Träume für die Müllerei aufgab, hat sie nie bereut. „A guats Butterbrot, da ist Kraft drin“, sagt sie.
Kontakt
Kerniges für Laib und Seele: Naturkostmühle Wagenstaller, Obermühl 49, 83083 Riedering, Tel. 0 80 36/77 20. Ladenöffnungszeit: Montag bis Freitag 9–17 Uhr, Mittwoch geschlossen, Samstag 9–12 Uhr. Der eintägige Backkurs mit Teestunde und frischem Butterbrot kostet 24 Euro, der Abendkurs mit Brotzeit und Getränken 34 Euro. Annelie Wagenstallers Brotbackbücher „Laib und Seele“ sowie „Brot und Heimat“ (je 24,90 Euro) gibt es über ihre Website www.naturkostmuehle.de.
