
Wer selbstbewusst zu seinem Körper steht, hat zehnmal mehr Ausstrahlung als jemand, der sich die Pfunde mühselig abhungert. Das behaupte ich nicht nur, ich kann auch einen wunderschönen Beweis liefern: Crystal Renn, Amerikas bekanntestes Model für Übergrößen. Mit wehenden Haaren erscheint die 23-Jährige zum Interview. Mein erster Gedanke: „Diese Frau präsentiert Übergrößen? Die ist doch überhaupt nicht dick!“ Eher das, was man als wohlproportioniert bezeichnet: 178 cm groß, mit Rundungen an den richtigen Stellen. Sie trägt Konfektionsgröße 42, ist also völlig normalgewichtig. Im Modebusiness misst man jedoch mit anderem Maß. Da gilt die 42 schon als gewaltige Nummer. Kein Wunder: Die Musterstücke der neuen Kollektionen werden für Fotoshootings immer nur in sehr kleinen Größen hergestellt – eben passend für superschlanke Models.
Crystal erzählt, dass sie genau diesem Ideal früher nacheiferte. Am Anfang ihrer Karriere, mit fünfzehn, ernährt sie sich praktisch nur von Salatblättern und zuckerfreiem Wackelpudding. Allein der Gedanke jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Ohne regelmäßige warme Mahlzeiten ist mit mir nicht gut Kirschen essen. Wackelpudding schon gar nicht. Aber ich bin ja auch kein Model. Aus gutem Grund. Crystal hungert sich von 70 Kilo auf 47 herunter, um in dem knallharten Business bestehen zu können: „Ich fühlte mich ständig elend, träumte nachts von Käsekuchen und Eiscreme.“ Als sie schon sehr dünn ist, setzt ihre Modelagentur noch einen drauf: An ihren Oberschenkeln sei immer noch zu viel Fett, das müsse weg. „Ich wusste gar nicht, wie das gehen sollte, weil ich sowieso schon kaum etwas aß“, sagt Crystal. Sie kämpft ständig gegen ihren Körper, wird krank und unglücklich.
Eines Tages hat sie genug. Sie beschließt, normal zu essen, und fühlt sich zum ersten Mal seit Jahren wieder wohl in ihrer Haut. Sie nimmt 20 Kilo zu, bekommt die Figur, die ihr offenbar von Natur aus zugedacht war – und aus dem mäßig gebuchten Magermodel wird eines der gefragtesten Übergrößen-Models der Welt.
Die volle Weiblichkeit
Die volle Weiblichkeit
Das erste, das auch hochklassige Marken wie Gaultier oder Dolce & Gabbana präsentiert. In ihrem Buch „Hungry“ Heyne-Verlag) erzählt Crystal Renn ihre Geschichte.
Gut, dass sie noch mal die Kurve gekriegt hat, denke ich. Und freue mich über den Trend zur weiblich-üppigen Figur, der zurzeit überall auszumachen ist. Erstens, weil ich selbst nicht gerade als Elfe geboren bin. Aber auch, weil Prominente wie Kate Winslet, Christine Neubauer oder Barbara Schöneberger, die stolz auf ihre Rundungen sind, uns signalisieren: Entspannt euch, ein paar Pfund mehr auf den Hüften sind vollkommen in Ordnung.
Obwohl das eigentlich gar nicht nötig ist. Die meisten Frauen sind heute selbstbewusst genug, um zu ihrem eigenen Körper zu stehen und sich darin wohlzufühlen. Unabhängig davon, was Designer, Trendsetter oder Hollywoodstars gerade als schick deklarieren. Das Lebensglück wird eben nicht in Kilogramm gemessen.
Diese Erfahrung machte ich vor vielen Jahren am eigenen Leib. Es gab da eine Phase, in der ich so schlank war, dass ich endlich alle Kleider, die mir gefielen, auch wunderbar tragen konnte. Trotzdem war ich in dieser Zeit ziemlich unglücklich. Heute muss ich wieder genau darauf achten, welche Kleidungsstücke zu meiner Figur passen und fühle mich dennoch tausendmal besser als damals. Seitdem habe ich aufgehört, im großen Stil mit meinem Gewicht zu hadern.
Unsere Zeit ist viel zu kostbar, um einem Idealbild hinterherzuhecheln. Zumal makellose Grazien, wie man sie im Hochglanzmagazin bewundern kann, ihren Traumkörper nicht nur knallharter Essdisziplin und Überstunden im Fitness- Studio verdanken sondern meist ebenso intensiver Foto-Retusche.
Kurven-Diskussion
Kurven-Diskussion
Will man sich wirklich mit solchen Vorbildern messen? Wohl kaum. Im wahren Leben laufen die Dinge sowieso ein bisschen anders. Wie oft war ich schon nach der Arbeit mit einer Freundin zum Sport mit anschließendem Absacker beim Griechen um die Ecke verabredet. Und wie oft ließen wir – natürlich nur aus Zeitgründen – das Training ausfallen und trafen uns lieber gleich im Lokal? Genau.
Gesunde Ernährung und genügend Bewegung sind sicher nicht unwichtig. Aber auch nichts, was man zu seiner persönlichen Ersatzreligion machen sollte. Glücklicherweise haben die meisten deutschen Frauen ein deutlich entspannteres Verhältnis zu ihrem Körper, als man es in Hollywoods Glitzerwelt pflegt. Das belegen die Ergebnisse unserer Umfrage: Stolze 46 Prozent würden sich für die weiblichen Rundungen von Scarlett Johansson entscheiden, wenn sie die Wahl hätten. Immerhin 20 Prozent wünschen sich Barbara Schönebergers Figur. Nur 5 Prozent gefällt der sehnige Körper von Madonna. Auch die zaundürre Victoria Beckham stößt mit mageren 7 Prozent auf wenig Zustimmung. Im Mittelfeld liegen die schlanke Désirée Nick und die kurvige Kate Winslet mit 9 und 14 Prozent.
Natürlich weiß man nicht, wie lange die Vorliebe für natürlich-weibliche Formen anhält. Ich vermute, dass wohlproportionierte Frauen, die lieber ein paar Pfündchen zu viel als zu wenig auf den Rippen haben – was im Übrigen auch die meisten Männer eher schätzen –, die Hungerhaken für eine ganze Weile als Schönheitsideal ablösen werden. Und falls doch die nächste Dürreperiode kommen sollte, ist das im Grunde auch egal. Wir wissen ja längst, dass wir uns nicht mit anderen vergleichen müssen – denn für Einzigartigkeit gibt es keinen Ersatz.
